Unentwegt dem Fortschritt verpflichtet
Hundertmal "Musik-Konzepte"


Der im letzten Jahr erschienene Band 100 der Vierteljahreszeitschrift "Musik-Konzepte" trägt den Titel "Was heißt Fortschritt?". Damit rütteln die beiden Herausgeber Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn an einer Denkkategorie, die seit der ersten Nummer vor 21 Jahren zu
den Grundpfeilern der Zeitschrift gehörte.

Der Fortschritt ist in Verruf geraten, sowohl in der Musik als auch außerhalb. "Was im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, bis hinein ins Zeitalter der Weltkriege, der industriell organisierten Massenmorde und der planmäßig herbeigeführten Sozialkatastrophen, ideeller Fetisch aller "Progressiven" gewesen war, scheint inzwischen zusammengebrochen zu sein", schreibt Heinz-Klaus Metzger im hundertsten Band der von ihm und Rainer Riehn herausgegebenen Zeitschrift "Musik-Konzepte". "Unter diesen Umständen", so fährt er fort, "an der normativen Dignität des Fortschrittsbegriffs für die künstlerische Technik und für die Ästhetik als Lehre von der anschaulichen Wahrheit festzuhalten, muß provokativ wirken und bedarf der Diskussion."

Festgefügtes Koordinatensystem

Von solcher Verunsicherung war in den Anfängen, und bis weit in die Gegenwart hinein, nichts zu spüren. Als Metzger und Riehn 1977 die "Musik-Konzepte" ins Leben riefen, wußten sie ganz klar, wo in der Musik der Fortschritt war: bei Schönberg, Webern und Stockhausen, bei der Wiener Atonalität, der Dodekaphonie und beim Serialismus. Und der Denker, der zu alledem den notwendigen philosophischen Überbau lieferte, hieß Theodor W. Adorno. Nach dem Vorbild der Wiener Publikation "Die Reihe" schufen die Herausgeber eine Zeitschrift, die den Avantgardisten aller Zeiten gewidmet sein sollte.

Es hing wohl mit der Biographie zusammen: Metzger, dessen Studienzeit in das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg fiel, hatte sich in den fünfziger Jahren dem Darmstädter Kreis, dem damaligen Mekka der progressiven Komponisten, angeschloßen, wo sich sein musikalisches Weltbild entscheidend herausbildete. An den legendären "Ferienkursen für Neue Musik" lernte er 1950 Adorno kennen, und im gleichen Jahr erlebte er dort als Chorsänger die deutsche Erstaufführung von Schönbergs Holocaust-Stück "Ein Überlebender aus Warschau".

Die Komponistennamen aus dem 20. Jahrhundert, die in den "Musik-Konzepten" auftauchen, sind Ausdruck dieser Wertordnung: Alban Berg (Band 4), Edgar Varèse (Band 6), Karlheinz Stockhausen (Band 19), Luigi Nono (Band 20), Ernst Krenek (Band 39/40), um nur einige zu nennen. Arnold Schönberg, Anton Webern und John Cage wurden mit Sonderbänden geehrt. Dagegen sucht man vergeblich nach Komponisten, die aus solcher Sicht als "reaktionär" zu gelten haben: Richard Strauß, Paul Hindemith, Benjamin Britten, Dmitri Schostakowitsch, Alfred Schnittke, Arvo Pärt. Auch die jüngere Generation blieb bis jetzt ausgespart. Der jüngste Komponist, der bisher mit einem Band bedacht wurde, ist Helmut Lachenmann mit Jahrgang 1935.

Die Reihe verstand sich allerdings von Anfang an nicht als Forum für die neueste Musik. Als 1981 der Band über Stockhausen erschien, galten die Beiträge dem seriellen Frühwerk des Komponisten aus den fünfziger Jahren. Dem Blick auf die Zeitgenoßen steht gleichgewichtig die Auseinandersetzung mit älteren Komponisten gegenüber. Eine entscheidende Rolle spielen die Komponisten der Jahrhundertwende, die nach ihrer Vorläuferrolle für die Modernen befragt werden: Debussy, Mahler, Wolf und andere. Die Suche nach den Avantgardisten von einst führte aber auch zu den Romantikern, den Wiener Klassikern, zu Bach, Monteverdi und zurück zu Josquin des Prés und Guillaume Dufay.

Das Konzept

Daß eine periodisch erscheinende Musikzeitschrift - ursprünglich gab es sechs, später vier Nummern pro Jahr - als Komponistenreihe auftrat, war 1977 ein absolutes Novum in der deutschsprachigen Musikpublizistik. Natürlich galt und gilt das Interesse nicht dem Biographischen, es sei denn bei unbekannten Komponisten wie Erich Itor Kahn (Band 85), denen man zum Durchbruch verhelfen will. Im Vordergrund steht das Werk, allerdings nicht in lexikalischer Manier das Gesamtwerk, sondern häufig eine Werkgruppe (Bachs Passionen) oder gar ein Einzelwerk (Brahms' Zweite Sinfonie). Die Werkbetrachtungen gehen oft von neuen oder unkonventionellen Denkansätzen aus, was zweifellos zu den Stärken der Reihe zählt. Der Werbetext des Verlags formuliert es so: "Dem musiktheoretischen Denken Adornos verpflichtet, stellen die Herausgeber musikalische Werke in das Spannungsfeld unterschiedlicher Forschungsansätze: die akribische musikalische Analyse wird begleitet von ästhetisch-soziologischen Versuchen, Erörterungen der Rezeptionsgeschichte oder zeitgeschichtlichen Dokumentationen." Dies alles geschieht, trotz dem wissenschaftlichen Anspruch, nicht als blutleeres und "objektives" Dozieren; vielmehr gehören provozierende Thesen, Kontroversen und Polemiken wesentlich zum Erscheinungsbild der Reihe und machen sicher einen wichtigen Teil ihrer Beliebtheit aus. Ein Beispiel dafür liefert im Jubiläumsband Konrad Boehmer mit seinem Aufsatz über Boulez, dem er vorwirft, die Sache des Fortschritts verraten und sich eine reaktionäre, klassizistische Ästhetik zugelegt zu haben.

Am Konzept der Reihe hat sich in den 22 Jahren ihres bisherigen Bestehens wenig geändert. Für diese Konstanz bürgen in erster Linie das Herausgeber- und Autorengespann Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn sowie eine stattliche Zahl von Autoren, die seit vielen Jahren für die "Musik-Konzepte" schreiben. Immerhin fällt auf, daß in neuerer Zeit die Fokussierung auf einzelne Komponisten aufgeweicht wird - etwa durch Themen wie "Musik und Traum" oder "Autoren- Musik". Die Hauptveränderung liegt aber zweifellos in einer gewissen Erosion des Denkansatzes. Obwohl die Reihe sich auch heute noch "dem musikalischen Denken Adornos verpflichtet" fühlt, hat der vom großen Übervater propagierte Fortschrittsoptimismus Risse bekommen, und dies nicht erst in Band 100.

Stimmte noch in Band 63/64 Martin Blumentritt ein Loblied auf den Komponisten Adorno an, dessen Werke Metzger und Riehn herausgegeben hatten, so wagt Jürg Stenzl in seinem großen Aufsatz über Musik und Traum (Band 74) erstmals Kritik an Adorno: In den Werken der europäischen Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre fehle die Traumthematik, "da man damals der rigorosen Idee musikalischer Autonomie (für die Adornos Materialbegriff konstitutiv war) nachhing". In Band 86 über Palestrina gibt Paul Attinello zu, an Pfitzners Oper "Palestrina" Gefallen zu finden, obwohl sie Kontrolle und Hierarchie verherrliche und obwohl Pfitzner später mit dem Dritten Reich kollaboriert habe. Und schwer ist zu entschlüsseln, was es mit der Idee musikalischer Autonomie zu tun hat, daß Christoph Schwandt im Band über Schubert (97/98) auf über achtzig Seiten Indizien aus des Komponisten Leben und Werk zusammenträgt, die dessen Homosexualität belegen sollen.

Zukunftsperspektiven

Zu den Zukunftsperspektiven befragt, äußert sich Metzger ganz eindeutig: "Alles soll so weitergehen wie bisher." Die Doppelbände über Kurt Weill (Bd. 101/102) und Hans Rott (Bd. 103/104) sowie die geplante Nummer über Giovanni Gabrieli bestätigen diese Absicht. Den Werken des in den achtziger Jahren wiederentdeckten Wiener Komponisten Hans Rott, den Mahler im Zusammenhang mit dessen erster Sinfonie in E-Dur als den Begründer der neuen Sinfonie bezeichnete, wird eine "revolutionäre Qualität" bescheinigt, die Anlaß für eine Neubewertung der spätromantischen Musik geben soll. Auch mit dem Anfang 1999 erschienenen Sonderband "Darmstadt-Dokumente I" steuert das Schiff "Musik-Konzepte" den Kurs weiterhin in Richtung Fortschritt. Gerade die Aufarbeitung von Darmstadt verweist aber auch auf ein retrospektives und leicht nostalgisch angehauchtes Element. Müsste der Fortschritt, so man an ihm überhaupt festhalten will, nicht auch in der Gegenwart gesucht werden? Schließlich sei die Frage erlaubt, was geschehen wird, wenn die beiden Kapitäne einmal von Bord gehen werden. Wer dann das Steuer in die Hand nehmen wird, ist vorerst eine müßige Frage. Mit Sicherheit aber wird bei dieser Gelegenheit die Frage nach dem Fortschritt nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet werden müssen.

Thomas Schacher

Musik-Konzepte. Die Reihe über Komponisten. Herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. Bisher 104 Bände. Edition text+kritik, München 1977 ff. Band 100: Was heißt Fortschritt? München 1998. 157 S., Fr. 22.-. Band 101/102: Kurt Weill. Die frühen Jahre 1916-1928. München 1998. 171 S., Fr. 42.10. Band 104: Hans Rott. Der Begründer der neuen Symphonie. München 1999. 173 S., Fr. 33.-.

Neue Zürcher Zeitung, 12. August 1999