Die Skala des Scheußlichen ist nach unten offen

Jan Philipp Reemtsma über Gewalt im 20. Jahrhundert und die Verbrechen der Wehrmacht

Das Interview führte die Frankfurter Rundschau
Sie haben ihn attackiert. Für die Gräber der Kriegsopfer solle er was spenden, empfahl die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach. Kranken Rauchern möge er was zugute kommen lassen, verlangte der Münchner CSU-Chef Peter Gauweiler. Die Rechtskonservativen richteten ihre Angriffe gegen Jan Philipp Reemtsma.
Der 45jährige ist der Chef des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Die Einrichtung zeichnet verantwortlich für die Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion. Eine Dokumentation des Vernichtungskriegs, die vom heutigen Montag an in der Frankfurter Paulskirche zu sehen ist.
Die Ausstellung wirkte "wie ein Reiz, der Geschichten zum Vorschein bringt, die abgekapselt waren, weggedrängt, verleugnet", sagt Reemtsma, dem die Konservativen einem Vorwurf gleich nachtragen, er habe Millionen geerbt. Hat er auch.
Aber er zog sein Geld von den Kapitalmärkte ab und steckte es in die Produktion von Ideen. Reemtsma gibt sein Geld dafür aus, daß "Leute gut und genau denken". Im Mittelweg 36, gute Adresse in Hamburg. Dort sprach der Mäzen mit den FR -Redakteuren Matthias Arning und Axel Vornbäumen über das Phänomen der Gewalt, die Wirkung des US-Historikers Daniel Goldhagen, über Theodor W. Adorno, Dummköpfe und die Ausstellung.
Herr Reemtsma, haben Sie gedient?
Nein.
Sie ahnen, warum wir so fragen? In der Logik von Kommißköppen haben Sie damit die Qualifikation, sich über die Wehrmacht zu äußern, grandios verfehlt. Mit solchen Einwänden können Sie leben?
Ja, sicher. Es ist nicht möglich, sich mit bestimmten Formen der Kritik auseinanderzusetzen, die einfach indiskutabel sind. Zu dummen Anwürfen kann man keine intelligenten Repliken machen. Das ist der Vorteil, den manche Dummköpfe haben, weil sie dann mit ihren Sätzen unkommentiert bestehen können. So ist die Welt.
Wie sieht es denn mit der Nützlichkeit von Reflexen aus? Haben Sie Herrn Gauweiler schon einen Präsentkorb nach München geschickt - in dialektischer Dankbarkeit für seine Reaktion?
Ich habe die Sätze von Herrn Gauweiler in keiner Weise kommentiert und gedenke das auch nicht zu tun.
Immerhin hat er Ihrer Ausstellung einen erhöhten Aufmerksamkeitswert verschafft, in München gab es mit 90 000 Besuchern einen Rekord.
Das ist richtig. Und vielleicht verdrießt ihn das. Aber im Grunde ist das egal. Diese Ausstellung ist nicht darauf angelegt, jemanden zu ärgern, schon gar nicht, Krawall zu machen. Sie hat, wo immer sie hingekommen ist, Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wohl mehr als vergleichbare zeitgeschichtliche Ausstellungen. Deshalb ist sie bis 1999 ausgebucht.
Ihr Mitarbeiter Hannes Heer, der aus rechtskonservativen Kreisen häufigster Adressat der Attacken gewesen ist, hat nach der Wehrmachtsdebatte im Bundestag gesagt: Wir haben erreicht, daß nicht mehr nur die Ermordung der europäischen Juden als Schuld von den Deutschen anerkannt wird, sondern auch die Schuld der bis dahin als sauber geltenden Wehrmacht. Das ist eine kühne These.
Ich würde das gar nicht nur auf die Bundestagsdebatte beziehen. Entscheidend dürfte 1995 die Rede von Verteidigungsminister Rühe gewesen sein, in der er gesagt hat, daß die Wehrmacht aktiv bei den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt war und somit nicht zum Traditionsbestand der Bundeswehr gehören könne. Man muß sehen, daß sich tatsächlich etwas umgekehrt hat - verglichen etwa mit den 50er Jahren, wo die Männer des 20. Juli in weiten Kreisen als Vaterlandsverräter galten und die Wehrmacht Traditionsbestandteil war. Dazu hat die jahrelange Forschungs- und Aufklärungsarbeit einiger - nicht sehr vieler - Historiker beigetragen, und nun hat das Hamburger Institut auch einen Beitrag dazu geleistet.
War die Aussprache im Bundestag Ihrer Ansicht nach qualitativ hochstehend?
Es war zumindest eine Debatte, die sehr aus dem Rahmen fiel und die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von sehr großer Ernsthaftigkeit geprägt war und sehr weit auf Schablonen der Polemik verzichtet hat. Das ist eine gute Sache.
Eindrucksvoll fanden wir die persönlichen Geschichten, die erzählt wurden. Das ist selten geworden im öffentlichen Raum.
Das ist für die Analyse des gesamten Phänomens hochinteressant: Was ist da emotional in Gang gekommen, was hat sich verändert? Ich sehe die Wehrmachtsausstellung im Kontext mit zwei anderen medienwirksamen Ereignissen: der Publikation der Klemperer-Tagebücher und dem Buch von Goldhagen. Diese drei publizistischen Ereignisse haben etwas thematisiert, was in der elitenorientierten Geschichtsschreibung zu kurz kommen mußte, nämlich den Zusammenhang von Regime und Volksgemeinschaft. Wo das thematisiert wird, wird automatisch der familiäre Rahmen potentiell mitthematisiert. Wenn das passiert, steigt die emotionale Intensität der Auseinandersetzung, und diese fordert das Genre Geschichte. Im Bundestag ist genau das passiert, was man psychologisch erwarten durfte. Man wirft in eine kleine Gruppe ein private Emotionen betreffendes Thema, dann geht es ein wenig hin und her, dann kommt die Familiengeschichte, man fängt an zu erzählen. Im Bundestag ist eine klassische Gruppendynamik abgelaufen.
Das Gegenstück zum Erzählen ist das Schweigen. Sie haben bei der Eröffnung der Ausstellung in München gesagt, das Schweigen in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg sei gar nicht schlecht gewesen. Damit sei vermieden worden, daß wir die Erfolgsgeschichte des Ostfeldzuges erzählt bekommen haben.
Es gibt auch die Dialektik der Unvernunft oder der Amoral. Man muß sehen, daß dies wahrscheinlich die Bedingung dafür war, daß eine Veteranenkultur, wie sie in Österreich existiert, hier nicht zustande gekommen ist. Es hat in den 50er Jahren Versuche gegeben, das kann man schön bei Wolfgang Kraushaar als Protestchronik nachlesen, die gescheitert sind. Wahrscheinlich wären die nicht gescheitert ohne diesen Pakt des Schweigens. Daß dies auf der anderen Seite unmoralisch war, weil Verbrechen verleugnet und verschwiegen worden sind und weil viele Soldaten, mit dem was sie gesehen hatten, auch kein Forum fanden, um die Wahrheit über diesen Krieg zu erzählen, steht auf einem anderen Blatt. Aber es kann auch sein, daß etwas, was man mit guten Gründen kritisiert, positive Effekte hat.
Brechen im Umfeld der Ausstellung nun die alten Kameraden den Pakt des Schweigens. Hören wir also jetzt, verspätet, von den Heldentaten des Ostfeldzuges?
Ist mir nicht bekannt. Ich glaube, das würde selbst für den, der jetzt das Bedürfnis dazu hätte, wohl zuweit gehen. Das wäre zu deutlich der falsche Ort. Es sind sehr viele ehemalige Soldaten Besucher der Ausstellung. In Stuttgart hat ein 80jähriger Mann geschimpft: "Verleumdung", darauf dreht sich ein Mann im selben Alter um und meint: "Was rufst Du hier? Das hast Du doch genauso gesehen wie ich, Du weißt doch genau, daß das stimmt." Man mußte die beiden trennen. In dem Film von Ruth Beckermann "Jenseits des Krieges" sind Aufnahmen von Besuchern der Ausstellung in Wien zu sehen. Da sagt einer: "Ich weiß, daß es stimmt und ich erlebe wieder die Verleugnung, die ich aus der Zeit nach 1945 kenne, als ich mit meinen Kameraden darüber sprechen wollte, was ich im Krieg gesehen habe. Und jetzt passiert mir das wieder". Das ist eine ganz typische Sache. Das erleben wir auch in Briefen. Die Leute bieten uns Material an, es gibt persönliche Erzählungen. Ich habe kürzlich von jemandem einen Brief bekommen, der mir eine Geschichte aus dem Krieg erzählt. Ein Kamerad hat russische Kriegsgefangene erschossen und er hat ihn nicht gemeldet. Er bat um Verständnis dafür. Vorher habe es einen Partisanenüberfall gegeben (so jedenfalls seine Interpretation) und ein Freund von dem ist dabei getötet worden. Einerseits bittet er: Nimm doch mal zur Kenntnis, was dort vorgefallen ist und greif' uns nicht an, verstehe den doch! Wenn man die Psychologie von Kriegshandlungen begreift, weiß man, wie das funktioniert. Auf der anderen Seite aber ist das eine Geschichte, so nehme ich mal an, die sein Gewissen umtreibt. Dieser Kamerad, sein Untergebener, hat Kriegsgefangene erschossen. Das war Mord. Und er hat ihn nicht gemeldet. Es ist eine sehr merkwürdig schillernde Geschichte, die er da erzählt.
Gibt es in den Briefen, die Sie bekommen, einen Standard-Abwehrmechanismus?
Ich nehme an, daß im Zentrum der Abwehr der Satz steht: Kriege sind nunmal so. Interessanterweise haben wir diesen Satz hier in Hamburg nicht von einem Veteranen, sondern von einer Journalistin gehört, die das Gefühl hatte, wir bringen ihre pazifistische Position durcheinander, wenn wir Kriege differenzieren. Wir würden uns hinstellen und sagen, es gibt einen Unterschied zwischen dem Krieg, von dem die Ausstellung spricht, und anderen. Rechtfertigen wir dann nicht die anderen Kriege. Da gibt es so etwas wie eine Koalition des pazifistischen Affekts mit dem "Rettet die Wehrmacht", die beide in diesem Satz gerinnen können. Das ist interessant.
Es gab herbe Kritik an der Ausstellung. Welche Kritik in der Sache hat Sie am meisten getroffen?
Aus der Tatsache, daß wir an dieser Ausstellung nichts geändert haben, können Sie schließen, daß uns diese Kritik nicht getroffen hat. Es fing damit an, daß behauptet wurde, die Fotos seien möglicherweise gefälscht. Dazu ist kein Nachweis erbracht worden. Dieser Vorwurf ist dann fallengelassen worden. Der Rest der Polemik gegen die Ausstellung zeichnete von ihr ein falsches Bild. Wenn man nach der Polemik ginge, müßte man erwarten, in eine Ausstellung zu kommen, wo sehr große, überdimensionale Fotos schockieren und es kaum Text gibt. Es ist aber in erster Linie eine Textausstellung mit sehr kleinen Fotos. Was mich trifft, ist die Hartnäckigkeit, mit der ein falsches Bild dieser Ausstellung zur Grundlage einer Diskussion gemacht wird. Das geht bis zur Verteidigung der Ausstellung durch Rudolf Augstein im Spiegel , der sagt: die Leute wollen heute nicht mehr lesen, denen muß man Fotos zeigen. Museumspädagogen und Ausstellungspädagogen haben uns gesagt: Ihr seid ja verrückt geworden. Ihr könnt den Leuten nicht so viel Text zumuten. Ihr müßt die Fotos größer machen. Nein, die Leute sollten lesen und dann den Blick auf die Fotos richten. Und die Besucher verhalten sich größtenteils auch so. Die Polemik und zuweilen auch die Verteidigung bezieht sich auf eine Legende. Das ist das, was ich am störendsten empfinde.
In Frankfurt ist die Ausstellung in der Paulskirche zu sehen. Gibt es nicht "plausiblere" Orte, etwa das Haus Gallus, in dem in den 60er Jahren die Auschwitz-Prozesse geführt worden sind?
Wir haben nie besonderen Wert auf die Orte in den Städten gelegt, etwa Rathäuser oder Landtage. Es sollen welche sein, wo sich möglichst viele Leute diese Ausstellung anschauen können. Die Paulskirche ist selbstverständlich ein guter und richtiger Ort. Aber diese Symboliken sind mir nicht so wahnsinnig wichtig.
Die Paulskirche hat für das kollektive Gedächtnis einen hohen Symbolwert. Es steht für ein Stück Aufklärung in Deutschland. Aufklärung ist für Sie eine Selbstverpflichtung. In welchem Zusammenhang steht diese Maxime mit der Ausstellung?
Wenn ich von Aufklärung spreche, meine ich nicht die in Pädagogik hinein verkürzte Attitüde des Gemeinschaftskunde-Lehrers. Das sicher nicht. Was die Ausstellung angeht, sage ich sehr simpel: Man muß die historischen Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Man muß sich mit der historischen Wahrheit abfinden, alles andere ist nicht gut für den Verstand.
Soll die Ausstellung auch Emotionen wachrufen, und wenn ja, was soll überwiegen: die Abscheu über den Täter oder das Mitleid mit dem Opfer?
Das könnte ich nie voneinander trennen. Emotionen sind auch kognitive Instrumente. Wer vor solchen Darstellungen, nicht nur von den Fotos, sondern auch von den Texten nicht erschrickt, der begreift auch die Vorgänge nicht. Wenn man sich emotional von solchen Ereignissen abschottet, kann man sie auch intellektuell nicht erfassen. Insofern muß eine solche Ausstellung auch emotional berühren. Das kann nicht anders sein.
Gibt es Bilder, die Sie besonders bewegt haben?
Mich hat besonders etwas berührt, was ich bei der Vorbereitung der Ausstellung, bei der Auswahl der Bilder gesehen habe. Die Bilder sind zum Teil noch so in den Archiven gewesen, wie sie den Soldaten in der Kriegsgefangenschaft abgenommen worden sind, das heißt: in den Brieftaschen. Da gab es eine Brieftasche mit einer Bildersequenz. Da war zunächst ein Häuschen, ich weiß nicht wo, vielleicht im Schwäbischen, mit einem Familienfoto. Dann war da das Porträtfoto einer Frau, die nicht auf dem Familienfoto war, es könnte die Schwester gewesen sein, vielleicht auch die polnische Geliebte. Als nächstes war ein ganz typisches Bild, eine Idylle, ein Weiher mit Gänsen, Bäumen, dann war da eine zerschossene Stadt, ein langer staubiger Weg, in dessen Graben Leichen lagen. Und dann kam ein aufgehängtes Kind mit einem Schild mit kyrillischer Aufschrift, wahrscheinlich wurde das Kind als Plünderer denunziert, man drehte es noch so in die Kamera. Ich habe darüber nachgedacht, was das heißt, daß jemand diese Bildsequenz in seiner Brieftasche hat. Wir wissen nichts über die Intentionen dieser Fotografien, aber dieses Amalgam vom Häuslichen über die Idylle des Krieges bis zum aufgehängten Kind und die Notwendigkeit, daß der, der das Foto von zu Hause anschauen will, zurückblättern muß, das hatte für mich etwas Gespenstisches. Bei vielen Leuten steht ja im Vordergrund, wir wissen das aus Gesprächen, aber auch aus Eintragungen im Gästebuch, daß es häufig nicht das was die Fotos zeigen ist, was erschrecken macht, sondern der Umstand, daß es überhaupt fotografiert wurde. Wir wissen bei sehr vielen Fotos nicht, warum sie gemacht worden sind. Es gab einige Fotografen, die dokumentieren wollten, etwa den Fotografen Gronefeld, von dem dieses berühmte "Gnadenschuß"-Foto war. Wir wissen aber von den Aufschriften einiger Fotos auch, daß sie Trophäen gewesen sind wegen der zynischen Kommentare auf der Rückseite. Das zeigt noch einmal einen Barbarisierungsgrad von Teilen der Wehrmacht, der sich einem mitteilt, wenn man sich lange in der Ausstellung aufhält. Man schaut irgendwann wie der Soldat durch die Kamera und fragt sich: was hat der da getan, was hat der dabei gefühlt?
Herr Reemtsma, wir zitieren Reemtsma: "Wer Gedenken zum Substitut des Gedächtnisses macht, verhüllt es." Welche Rolle spielen die Verbrechen der Wehrmacht von nun an im kollektiven Gedächtnis?
Es ist im Grunde zu früh, das zu beantworten. Die Ausstellung ist ja durch den Erfolg, durch die politischen Debatten um sie selber zum zeitgeschichtlichen Ereignis geworden, das der Analyse und der Auswertung bedarf. Wir haben deshalb Interviews gemacht, wir haben die Gästebücher, es gibt Videobänder. Man muß das analysieren. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nur sagen: Sie hat wie ein Reiz gewirkt, der Geschichten zum Vorschein bringt, die abgekapselt waren, weggedrängt, verleugnet. Manchmal bedarf es eines solchen Reizes von außen nicht. Nehmen Sie Paul Feyerabend, der seine Autobiographie auf seinem Totenbett schreibt, da kommen ihm auf einmal zwei drastische Erlebnisse aus dem Rückzug aus Rußland über die Ermordung von Zivilisten, die in dem vorherigen Erzählen über sein Leben keine Rolle spielten, ins Gedächtnis, aber dann doch aufgeschrieben werden mußten. Und so etwas scheint diese Ausstellung hierzulande anzustoßen. Was mit solchen Erinnerungen langfristig wird, das weiß man nicht. Viele können dann auch wieder vergessen werden. Die Formel "Wider das Vergessen" taugt als Formel nicht viel. Genauso wenig, wie Gedenkrituale per se viel taugen. Es gehört zu manchen Geschichten, daß sie auch vergessen werden können.
Damit sie nicht vergessen werden, haben Intellektuelle eine große Aufgabe - die Aktualisierung des kollektiven Gedächtnisses. Wie sehen Sie sich selbst als Intellektueller?
Keine Ahnung. Diese Frage stelle ich mir nicht.
Stellen Sie sich auch nicht die Frage nach der Funktion der Intellektuellen?
Ich würde sie eher salopp beantworten.
Bitte . . .
Leute, die das soziale Privileg haben, ihr Geld mit Denken verdienen zu können. Die sollen das gefälligst gut und genau tun. So würde ich das beschreiben. Ich verdiene mein Geld nicht damit, ich gebe es dafür aus, das ist der einzige Unterschied.
Sie haben 1984 Ihr Institut gegründet. Wenn man Institut für Sozialforschung hört, fällt einem sofort das berühmte andere Institut in Frankfurt ein. War das ein Vorbild und Theodor W. Adorno eine Leitfigur für Sie?
Nein. Manchmal habe ich gedacht, es ist ein Fehler gewesen, es so genannt zu haben. Genannt habe ich es deshalb so, weil der Begriff Sozialforschung das am besten beschreibt, was hier gemacht wird. Es sollte nicht Soziologie oder Ökonomie, sondern schon der Versuch sein, die Gesellschaft und ihre Institutionen als Ganzes in den Blick zu nehmen und verschiedene Disziplinen zu vereinigen. Man kann sich ein solches Institut nicht zum Vorbild nehmen und schon gar nicht Individuen wie Adorno.
Sollten Intellektuelle oder Philosophen in der heutigen Zeit auch herrschen?
Ich bin nicht der Meinung, daß Intellektuellen als Intellektuellen eine besondere Rolle in der Politik zukommen müßte. Sie sollten sich nicht als Intellektuelle, sondern als Bürger in der Verantwortung fühlen. Und wenn sie in der politischen Debatte das, was sie aufgrund ihrer Privilegien mehr wissen, fruchtbar machen können - umso besser. Aber die Idee von Philosophenkönigen finde ich nicht sehr schätzenswert. Bei Platon hat man gesehen, was dabei herauskommt - in der Praxis wie in der politischen Theorie.
Das Buch und die Thesen Daniel Goldhagens haben viele sehr stark emotional aufweckt. Er behauptet, daß die Täter ihre Verbrechen begangen haben, weil sie sie für richtig hielten. Sie haben Goldhagen dialektisch ergänzt, indem Sie gesagt haben, die Täter hielten es für richtig, weil sie diese Taten getan hatten.
Das Interessante an der Rezeption Goldhagens in Deutschland ist zunächst diese einhellige Ablehnung durch die Zunft einerseits und der große Erfolg beim Publikum, dieses Auseinanderklaffen. Als Goldhagen sein Eingangsstatement hier in Hamburg machte, wurde mir deutlich, worum es bei diesem Öffentlichkeitserfolg ging. Er sagte: Wo es einen Massenmord in der Geschichte gibt, ist man überzeugt, daß die Täter davon ausgingen, daß es richtig war, was sie taten. Nur im Schrifttum über den Holocaust wird vorausgesetzt, daß die Täter das eigentlich nicht wollten, und sucht eine Erklärung, warum sie es doch getan haben. Warum? Ich hatte ein wenig das Gefühl, daß es im Publikum eine Erleichterung gab - jetzt sagt es endlich mal jemand. Das ist es doch, worum wir uns die ganze Zeit gedrückt haben. Dazu gehören auch die kommunikativen Strategien, in denen sich Täter darauf einigen konnten, daß das zwar schrecklich war, aber richtig und notwendig. Dazu gehört dann auch diese Psychologie, daß eine Tat begangen ist, der Mörder dennoch nicht als Mörder dastehen will. Es werden Bilder kaschiert, die Erinnerung wird manipuliert, um, obwohl man einen Mord begangen hat, hinterher nicht als Mörder dastehen zu müssen.
Das haben die Historiker vernachlässigt.
Interessant ist, Goldhagen-Debatte zweiter Teil, daß die Historiker sich mit der Psychologie der Täter vergleichweise wenig beschäftigt haben. Es bleibt ja ein interessantes Phänomen, auf das Goldhagen mit aller Vehemenz hingewiesen hat, daß es geschehen konnte, daß in Teilen der Geschichtsschreibung aus der Analyse des Holocaust der Antisemitismus verschwunden war. Das ist im Grunde eine bemerkenswerte Leistung. Mir haben die Lektüre von Goldhagen und die Debatte um sein Buch die Sinne geschärft für eher unscheinbare Textdetails. Wenn etwa die Erklärung einer bestimmten Tat von vornherein - ohne entsprechenden Beleg - unterstellt, der Täter habe sich zur Tat erst durchringen müssen. Nehmen Sie als Beispiel den Einsatz von Zwangsarbeitern in deutschen Unternehmen. Sehr oft wird so geschrieben, als sei die Entschlußbildung zum Zwangsarbeitereinsatz in irgendeinem Unternehmen ziemlich mühselig gewesen. Es gibt aber keine Belege dafür, daß das Thema im Vorstand oder im Aufsichtsrat kontrovers diskutiert wurde. Im Gegenteil. Dazu hätte es im Grunde des Buches von Goldhagen nicht bedürfen müssen, aber es hat viel bewirkt.
Es gibt Leute, die zählen schon die Tage bis zum Ende dieses Jahrhunderts. Wie würden Sie dieses Jahrhundert charakterisieren und was meint in diesem Zusammenhang der von Ihnen verwendete Begriff des zivilisatorischen Minimums?
Was mich immer interessiert hat, ist die spezifische Form der Ratlosigkeit, die einen ergreift, wenn man auf dieses Jahrhundert zurückschaut. Die ist eine ganz andere, als für jemand, der auf das 19. Jahrhundert zurückblickt. Ich glaube nicht, daß der, der 1897 zurückgeblickt hat, das Gefühl hatte, daß er an diesem 19. Jahrhundert nicht sehr viel versteht. Dieses Gefühl der Ratlosigkeit, was wir am Ende dieses Jahrhunderts haben, hat entscheidend mit der Gewaltgeschichte zu tun: die Vorstellung der Eingrenzbarkeit von Gewalt ist in diesem Jahrhundert auf das gründlichste ruiniert worden - in Kriegen, in zivilen Massakern, in Terrorsystemen unterschiedlichster Art. In diesem Zusammenhang habe ich vom zivilisatorischen Minimum gesprochen, weil in verschiedenen Teilen dieser Welt Menschen damit konfrontiert worden sind, daß sie der Gewalt durch die simplen Strategien des Weglaufens oder Auswanderns, der Konversion oder des Aufgebens nicht entgehen konnten. Dies ist eine der Schockerfahrungen dieses Jahrhunderts.
Versetzt Sie dies, als jemand, der viel über Gewalt und Elend geforscht hat, in den Zustand der Verzweiflung?
Verzweiflung? Zur Aufklärung hat immer der Pessimismus gehört. Wenn Sie Phänomene extremer Gewalt analysieren, kommen Sie immer wieder an den Punkt, an dem Sie nicht mehr genau begreifen, was eigentlich vorgeht. Wenn man in die Details geht, haben Sie nur eine Gewißheit: das, was Sie finden, ist immer noch scheußlicher, als man es vorher angenommen hat. Die Skala des Scheußlichen, der Bosheit und Gemeinheit ist nach unten offen. Aber trotzdem rede ich, wenn ich das sage, nur über einen Teil der Welt. Wenn man bereit ist, ihn so wie er ist zur Kenntnis zu nehmen, hat man schon etwas dafür getan, daß er vielleicht nicht das letzte Wort, sagen wir: dieses Jahrhunderts bleibt.
COPYRIGHT - 97,FRANKFURTER RUNDSCHAU

[ Top | Zurück ]


Most recent revision: April 07, 1998

E-MAIL: Martin Blumentritt