Das "bioethische" Netzwerk
Die Auseinandersetzung um die "Euthanasie"-Thesen des australischen Philosophen Peter Singer droht die Tatsache zu verdecken, daß längst eine internationale "bioethische" Großoffensive in Gang gekommen ist, die von Singer lediglich mitbetrieben wird. An ihr beteiligen sich neben zahlreichen angelsächsischen vor allem auch deutsche Wissenschaftler, die den "dringenden Nachholbedarf" der Deutschen in Sachen "Euthanasie, Abtreibung, dem moralischen Status von Tieren, Selbstmord oder Eigentumsrechte bezüglich des eigenen Körpers" befriedigen wollen. Ein Zwischenbericht überden Stand ihrer Arbeiten und die institutionellen wie personellen Verflechtungen, über die sich die "Euthanasie"-Befürworter im Wissenschaftsbetrieb etabliert haben
Der Streit um (und mit) Peter Singer geht weiter. Nach den Turbulenzen um seinen Auftritt beim schließlich abgesagten Lebenshilfe-Symposium im Frühsommer 89 (Schirmherr: Bundesgesundheitsministerium) kam es im vergangenen Wintersemester an der Uni Duisburg zum nächsten Eklat. Nach massiven Protesten gegen die Behandlung der "Praktischen Ethik" Singers durch den Philosophen Prof. Hartmut Kliemt in einem Proseminar für Studienanfänger erfolgte im Januar 90 der Abbruch der Lehrveranstaltung. Kliemt, bereits 1979 mit einem eher zustimmenden Aufsatz zum "Klonen" beim Menschen hervorgetreten ("Zeitschrift f. Rechtspolitik"), war unter anderem der Kritik einer behinderten Studentin mit dem Hinweis begegnet, sie persönlich habe nichts zu befürchten, da ihre Beiträge Rationalität verrieten.
Studenten und Professoren der Fachschaft stellten sich in Erklärungen jedoch hinter Kliemt, wiesen Vorwürfe gegen "faschistische Indoktrination" zurück und betonten, Singers Buch gebühre "innerhalb der moralphilosophischen Literatur der letzten Jahre ein besonderer Rang". Bereits am 14.12.89 hatten acht namhafte Berliner Philosophen (u.a. Tugendhat, von Brentano, M. Theunissen, Wolf) auf die Duisburger Vorgänge reagiert. In einer Erklärung lehnten sie einen Vergleich des Buchs mit Schriften ab, "die durch Appelle an Emotionen ... Euthanasie propagieren". Das Buch erarbeite vielmehr "eine rationale und konsistente Lösung" für ethische Probleme, besonders für "Fragen von Leben und Sterben". Die Verhinderung von Seminaren sei "ein skandalöser Vorgang".
Die Erklärung entfachte eine in "Frankfurter Rundschau" und "taz" ausgetragene Debatte sowie eine breit unterstützte Gegenerklärung. Unter dem Titel "Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus" verweisen deren Unterzeichner und Unterzeichnerinnen auf die "Brutalisierung der Lebensverhältnisse", die Singer durch die Legitimierung von Euthanasie "durch Kosten-Nutzen-Vergleiche" propagiere. Die Verhinderung des Seminars sei deshalb gerechtfertigt gewesen (KONKRET 3/90).
Auf den Abbruch des Seminars in Duisburg selbst reagierten Fachschaft und Kritiker unterschiedlich. Eine spontan gegründete "Anti-Euthanasie AG", der auch Professoren angehörten, forderte eine Ringvorlesung zum Thema im Sommersemester. Prof. Kliemt bestand mit anderen auf der Wiederholung seines Seminars. Als bekannt wurde, daß er dafür Polizeischutz beantragt hatte, drängte ihn das Rektorat zur Rücknahme. In einer Erklärung vom 4. April kündigte Kliemt sein Seminar schließlich fürs WS 90/91 an und erklärte, entschlossen "dem Vorsatz entsprechend" handeln zu wollen. Währenddessen war in Duisburg unter dem Motto "Die Philosophie Peter Singers - eine Herausforderung", u.a. mit Referenten wie Ernst Klee, eine Ringvorlesung angelaufen, die von der "Anti-Euthanasie AG" jedoch heftig kritisiert wurde, da mit den Professoren Birnbacher und Hegselmann (Essen und Bremen) Fürsprecher Singers zu Wort kamen. Hegselmanns Auftritt am 9. April führte zu empörten Stellungnahmen. Zur gleichen Zeit fand in Bremen eine Ringvorlesung unter dem Titel "Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens" unter Federführung von Prof. Georg Feuser statt.
Eine Kuriosität zeichnete sich im Februar in Berlin ab. Am 11.2. distanzierte sich mit Prof. Tugendhat der erste der Berliner Unterzeichner nicht nur von Teilen der "Erklärung", sondern auch von Singers Buch, forderte aber, "daß man auch in Deutschland endlich eine offene Diskussion über diese Dinge zulassen müßte". In einem WDR-Streitgespräch mit Wilma Kobusch, Hauptkontrahentin Kliemts in dessen Seminar, bezeichnete Tugendhat Singers Positionen als "extremistisch", kritisierte aber wie dieser eine "moralische Ideologie" christlicher Herkunft, die verhindere, daß im Falle schwerstbehinderter Kinder "Abhilfe geschaffen" werden könne - "zugunsten der Kinder". Eine gewisse Einschränkung reichte er im April nach: Tugendhat räumte ein, "noch zu wenig ... im Bereich der Behinderten" zu wissen, sprach sich jedoch in einem SWF-Beitrag vom 27. Mai 90 abermals für eine Erwägung des (von "Bioethikern" wie Singer und Engelhardt propagierten) "Person"-Begriffs aus, der es erlauben soll, daraus erschlossenen "Nicht-Personen"-Rechte, darunter jenes auf Leben, abzusprechen.
Schon 1983, in "Retraktationen" ("Probleme der Ethik", Stuttgart 1984), hatte Tugendhat keinen zwingenden Grund gesehen, "Kleinkinder, ungeborenes Leben, Tiere ... moralisch zu respektieren", und Zweifel am "Ausmaß" des Problems geäußert. Neuerdings aber ist er diesbezüglich zu gültigen Aussagen gekommen und bezieht nun "Behinderte" ein. In einer Reaktion auf die Sprengung eines Philosophie-Hauptseminars zu Singers Ethik an der Freien Universität Berlin/West am 11.5.90 hat er zugegeben, daß "wir eine ohnehin diskriminierte Minderheit mit der Diskussion solcher Fragen bedrohen", bestand aber weiterhin darauf, daß es "Handlungsbedarf" gebe. Die Diskussion sei zwar "im negativen Interesse der Behinderten, ... aber zugleich im positiven Interesse aller". Das moralische Dilemma könne gemildert werden, "wenn es uns, den über diese Fragen Philosphierenden, gelänge, die Behinderten wirklich miteinzubeziehen". Schon in seinem SWF-Beitrag hatte Tugendhat den Utilitarismus für "viel besser geeignet" gehalten, "die verschiedenen Erweiterungen der moralischen Verantwortlichkeit verständlich zu machen", "obwohl einige wenige zu leiden haben".
Frau von Brentano, eine weitere Unterzeichnerin der "Erklärung", distanzierte sich im April von Singer, stellte sich jedoch hinter die "Stoßrichtung" der "Erklärung", ohne diese zu verdeutlichen, und räumte zugleich ein, Singers Schriften nicht genügend gekannt zu haben.
Peter Singer selbst meldete sich im Januar zu Wort. Im Editorial der von ihm in Melbourne edierten Zeitschrift "Bioethics" (1/90) schlug er nach einer eingehenden Schilderung seiner bundesdeutschen Erfahrungen im vergangenen Jahr die Gründung einer "international association of bioethics" vor, zum Ausgleich für "a near-total lack of a tradition of rational argument in practical ethics in Germany" und verglich die bundesdeutsche Ablehnung seiner Anschauungen mit Khomeinis "religious fundamentalism". Im Editorial der April-Ausgabe berichtete er dann von "overwhelmingly favorable responses" von Direktoren bioethischer Institute überall in der Welt. Gedacht ist an einen Weltkongreß (zwei- oder dreijährig), der einer Vernetzung der Forscher und ihrer Institute dienen soll, vor allem aber der "defence of free speech". Zugleich bietet die April-Ausgabe seines Blattes wieder Anregungen zum Thema "Euthanasie". Als flankierende Maßnahme einer gesetzlich abgesicherten Tötung Schwerstgeschädigter wird dort die Ausbildung von "killer-doctors", bzw. "telostricians" vorgeschlagen.
Während der Streit um Singer zu einem fruchtlosen Streit mit ihm zu werden scheint, werden die Umrisse einer im Gang befindlichen "bioethischen" Großoffensive sichtbar. Neben die amerikanische Schule (vgl. Konrad Heydenreich, Tristram Engelhardts schöne neue Welt, in: "Erziehung + Unterricht"-Probeheft) tritt neuerdings eine bundesdeutsche, die nicht weniger zur Auseinandersetzung herausfordert. Brennpunkt ist hier das Bochumer "Zentrum für Medizinische Ethik", eine "Gemeinnützige Vereinigung", die unter dem Dach der Bochumer Ruhr-Universität mit dem Pharma-Unternehmen DUPHAR (Hannover) zusammenarbeitet. Prof. Sass, gemeinsam mit dem Sozialmediziner Prof. Viefhues Leiter des Zentrums, führt am Kennedy Center of Bioethics, Washington, seit 1987 jährliche Seminare "speziell für Teilnehmer aus dem deutschsprachigen Raum" durch, um einem dringenden Nachholbedarf" in der Bundesrepublik in Sachen "Euthanasie, Abtreibung, dem moralischen Status von Tieren, Selbstmord oder Eigentumsrechte bezüglich des eigenen Körpers" zu begegnen. Während der Singerdebatte im letzten Jahr verabschiedeten die Teilnehmer des laufenden Seminars "a statement of support for freedom of discussion".
Dem Intensivseminar in Washington vom 28.5. bis 9.6.90 wollte Prof. Sass noch im Juni ein Intensivseminar zum Thema CONSENSUS FORMATION in Bochum folgen lassen (im Rahmen der IV. Annual Conference Of The European Society For Philosophy Of Medicine And Health Care), dem sich ein CASE STUDY WORKSHOP anschließen sollte. Die Veranstaltung sollte unter dem Dach der Bochumer Universität stattfinden. In einer international versandten Einladung wurden Beiträge u.a. zu "Todeskriterien" und "Euthanasie" angefordert. Den gemeldeten Seminarteilnehmern wurden zur Meinungsbildung schließlich "Fälle" der medizinischen Praxis ausgegeben, u.a. zu schwerstgeschädigten Neugeborenen, wobei die Teilnehmer um Fall-Erörterungen und Entscheidungsprotokolle gebeten wurden. Daraufhin schlossen sich das Gen-Archiv in Essen und Behindertenverbände zu einem "Anti-Euthanasie-Forum Ruhrgebiet" zusammen und verständigten sich für den 9. Juni auf eine "Widerstandstagung" gegen den Bochumer Bioethik-Kongreß. Dabei sollte u.a. eine britische TV-Show gezeigt werden, deren Kandidaten (echte Patienten) um ihre Behandlung kämpfen. Das Publikum entscheidet nach Plädoyers von 'Anwälten' über die Vergabe der lebensrettenden Behandlung. Auch aufgrund der Presseberichterstattung und massiver Proteste kündigte das Rektorat am 5. Juni seine Schirmherrschaft für den Bochumer Kongreß auf, der darauf in die Niederlande auswich, ein Ausweg, den bereits das im Frühsommer 1989 geplatzte Lebenshilfe-Symposium gewählt hatte. In offenen Briefen bestreiten Sass und Viefhues, der Bochumer Kongreß habe mit Euthanasie zu tun gehabt. Die Universität beklagte, der "pluralistischen Wissenschaft" sei Schaden zugefügt.
Die Konturen einer institutionellen Einbettung der Bochumer in die angelsächsische "Bioethik" werden derweil in Umrissen deutlich. So firmiert Prof. Sass in Engelhardts "Foundation of Bioethics" (1986) mit anderen als fachlicher Berater und steuert Anregungen bei. Auf einem Tübinger Symposium im selben Jahr, mitgetragen von der Landesregierung Baden-Württemberg, vertritt mit Prof. Dieter Birnbacher neben Sass ein weiterer deutscher Philosoph dezidiert "bioethische" Positionen. Birnbacher stützt sich in seinem ebenfalls 1986 erschienenen und umstrittenen Aufsatz "Prolegomena zu einer Ethik der Quantitäten" ("Ratio" 1986/1), in dem die Verhinderung der "Geburt unglücklicher Kinder" utilitaristisch empfohlen wird, auf die US-Bioethik, darunter auf Engelhardt und Joseph Fletcher. Während dieser in Singers "Praktischer Ethik" von 1979 als "protestantischer Theologe" firmiert, begegnet uns in der Presseberichterstattung zu Sass' Washingtoner Bioethik-Kurs von 1987 John Fletcher als Direktor des Bioethischen Programms am NIH (National Institute of Health), jener Institution, die während der letzten Jahre mit riskanten gentechnologischen Versuchen am Menschen für Schlagzeilen sorgte. Fletcher und Engelhardt werden von Prof. Viefhues, neben Sass Leiter des Bochumer "Zentrums", in seiner Schrift "Ethische Probleme der Transplantation") (in: "Ethik und Organtransplantation", als "christliche", bzw. "humanistische" Denker vorgestellt. Beide finden sich auch im "Editorial Board" von Peter Singers "Bioethics". Verbindungen zu Singer und Kuhse hat auch die "Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben".
Kontakte in die Bundesrepublik brachten Engelhardt, texanischer Abkömmling deutscher Auswanderer und längere Zeit am Kennedy-lnstitut (Direktor für die Europäische Sektion seit 1981: Prof. Sass), eine Gastprofessur am "Wissenschaftskolleg Berlin" vom Sommer 1988 bis Sommer 1989. Eine deutsche Ausgabe seiner "Foundation" im Springer-Verlag war schon für Ende 1989 angekündigt, wurde dann auf Mitte 1990 verschoben und soll nun im Sommer 1991 erfolgen. Bereits 1987 nahmen ein Vertreter des Springer-Verlags sowie die Herausgeber von "Arzt und Christ", Stuttgart, am Intensivkurs von Prof. Sass im Washingtoner Kennedy-lnstitute teil. Sass stellt "Arzt und Christ" als medizinisches Periodikum in eine Reihe mit Singers "Bioethics", Engelhardts "Journal of Medicine and Philosophy" sowie dem "Hastings Center Report" (seit einiger Zeit verantwortlich: Tristram Engelhardt).
Mit Springer und Reclam kommen dabei deutsche Großverlage in den Blick, die seit Jahren zielstrebig eine Öffnung des deutschen Philosophiemarkts für die angelsächsische Bioethik und verwandte Denkströmungen betreiben. So zeichnet Norbert Hoerster, Ziehvater des Duisburger Philosophen Hartmut Kliemt, in der Reclam-Reihe "Arbeitstexte für den Unterricht" als Herausgeber des Bandes "Religionskritik" verantwortlich, dem thematischen Steckenpferd der Bioethik.
In Sass "Medinzin und Ethik etwa führt Hoerster die Zustimmung von (ungenannten) Theologen zu "einem modernen Massenvernichtungskrieg" als Begründung dafür an, daß das "göttliche Tötungsverbot ... zur Erlösung eines schwer leidenden, lebensunwilligen Individuums durchbrochen werden darf". Eine zielstrebige Hinwendung des Reclam-Verlags zur konservativen angelsächsischen Szene belegen auch die Neuerscheinungen dieses Jahres. Eine "ganz kurze Einführung in die Philosophie" bietet da der Amerikaner Thomas Nagel unter dem Titel "Was bedeutet das alles?" Nagels "beachtenswerte individuelle Versuche" (während der inneramerikanischen Kampagne gegen Quoten für Minderheiten) hat bereits Peter Singer in der deutschen Reclam-Ausgabe seiner "praktischen Ethik" gelobt. Kein Wunder, daß auch im kürzlich von Initiativgruppen verhinderten FU-Hauptseminar zu Singers Ethik neben der derweil bekannten bioethischen US-Literatur auch Nagel-Schriften diskutiert werden sollten.
Der Ubersetzer des Reclam-Bändchens, Michael Gebauer, spricht von einem "gefeierten Philosophieprofessor" und stellt die Publikation der Schrift in aktuelle Bezüge: "Bei uns hat es eher den Anschein, als ob die besten-wenn auch kurioserweise nicht die meistgeschätzten - Neuerscheinungen oder Lehrveranstaltungen die beeindruckenden philosophischen Fortschritte nur noch mit mehr oder weniger Verständnis nachvollziehen können, die sich ... nicht zufällig in der analytischen Philosophie der angelsächsischen Länder ereignet haben." Dieses verdeckte Lob für Singer und Kliemt und die Abwertung ihrer Gegner kommt nicht von ungefähr: Dr. Dietrich Klose, Reclam-Lektor für Anglistik und Philosophie und zuständig auch für das Nagel-Bändchen, zeichnete schon für die Herausgabe von Singers "Praktischer Ethik" verantwortlich, die er auch inhaltlich befürwortete. Man darf auf weitere Publikationen des Reclam-Verlags gespannt sein.
Die Versorgung von Schule und Unterricht mit bioethischer Propädeutik betreibt auch der Schulfunk des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart in Heidelberg. Die Begleitbroschüre zu einer Anfang des Jahres gesendeten sechsteiligen Hörfunkserie zu "Die neue Schöpfung" (ohne Fragezeichen), einer als Wissenschaftskrimi konzipierten Einführung in die Gen-Technologie, empfiehlt Biologielehrern u.a. Singers Buch "The Reproduction Revolution" (1984) sowie Titel von Joseph Fletcher und Friedrich Vogel, Heidelberg. Zur Abrundung des Angebots für den schulischen Hausgebrauch bietet die Broschüre Originaltexte der "Edition Roche", Basel.
Auch sonst hält sich der technologieabhängige Süden Optionen offen. Informelle Kontakte zu Engelhardts Lehrstuhl und zu anderen Bioethikern an der Georgetown-University und am angegliederten Kennedy-lnstitute of Ethics unterhält seit Jahren die "Forschungsstelle Ethik in den Naturwissenschaften" der Universität Tübingen, eine interdisziplinär getragene Einrichtung. Sie fungierte neben der Landesregierung BadenWürttemberg und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft als Organisator des gentechnologischen Symposiums 1986, auf dem Birnbachers, Sass' und Engelhardts Beiträge kritisch aufgenommen wurden. Der Sprecher der Forschungsstelle, der Theologe Prof. Dietmar Mieth, sieht eine "Konkurrenz" zwischen einem "Schöpfungsfrieden, den Menschen nicht herstellen können, und dem Risiko-Ethos von Wissenschaft und Technik auf dem Weg zu Zielen, die im einzelnen durchaus verständlich sind". Der theologische Bezugspunkt bleibe aber eine "ständige Provokation", über unsere Vorstellungen "nachzudenken".
Bereits 1972 hatte Mieth eingeräumt, die "Zeiten einer weitgehenden Ubereinstimmung von kirchlichem, gesellschaftlichem und rechtlichem Sittenverständnis" seien vorbei, wobei er u.a. auf Joseph Fletchers bereits 1967 deutsch erschienenes Buch "Moral ohne Normen?" verwies. Wie aber findet dann noch "Provokation" als ethisches Korrektiv seinen Weg zum vorausstürmenden Risiko-Ethos? Mieth schwebt vor, "Verständigungsmodelle in der Wissenschaft zu entwickeln, die eine ethische Begleitung naturwissenschaftlicher Forschung und technologischer Ergebnisse gestatten" ("Concilium", 3/89). "Provokation" schrumpft zu managementinterner Manöverkritik. Auch in anderer Hinsicht nähert sich Mieth der Perspektive derer, die provoziert werden sollen. Während Engelhardt Staat und Gesetzgeber vom bioethischen Management möglichst ganz fernhalten will, plädiert Sass für die "Reduktion staatlichen Risikomanagements". Ganz in diesem Sinne übernimmt Mieth die sozialtechnokratisch-politische Perspektive der US-Bioethik, die sich als eigenständige Macht neben Parlament, Staat und Verwaltung etablieren möchte und damit nicht nur organisatorisch, sondern auch ideologisch freie Hand einfordert: "Nun stellen sich gerade in der Bioethik nicht nur und nicht einmal vorrangig Fragen der individuellen Entscheidung des richtigen Handelns, sondern Fragen des Gemeinwohls, über die gesellschaftliche Gruppen (z.B. wissenschaftliche Gremien); informelle Gruppen, die Meinungsbilder in der Gesellschaft bestimmen; ökonomische Betriebseinheiten nach den Maximen der Subsidiarität mitbefinden", wobei "Konsensbedarf" entsteht und die "Ubersetzbarkeit verschiedener Ansätze und verschiedener Sinneinsichten" zur ersten Pflicht wird. "Provokation" schrumpft damit weiter zur "säkularen" Ethik, die sicherstellt, "daß Konflikte möglichst reduziert werden", wenn das RisikoEthos sich Bahn schafft.
Von der Ubernahme der bioethischen Perspektive, als Preis des Dabeiseins, zur Ubernahme des "Risiko-Ethos" der Urheber scheint freilich nur ein kleiner Schritt zu sein. So werden andere katholische Moraltheologen bereits zu Anwälten der Sache, die sie begleitend bändigen wollten. Anläßlich seiner Einsetzung zum Vorsitzenden einer Kommission des Ministeriums für Forschung und Technologie, die über soziale Folgen der Genomanalyse beraten soll, meinte Prof. Böckle, Bonn, das Ergebnis vorwegnehmend, er sehe seine Aufgabe vor allem darin, von "unten" in der Gesellschaft ein Verständnis für die Erforschung des menschlichen Erbguts zu wecken. Sie beinhalte "für den Menschen auch sehr viele Chancen". Auch Böckle geht es weniger um "individuelle Probleme". Nicht der einzelne Mensch als Urheber oder Ziel von Wissenschaft und Technologie, somit als Ort von Verantwortung, sondern "der Mensch" als Gattung wird so auch aus theologischer Sicht zum Feld einer kreativen Zukunftsaufgabe, wie sie etwa Tristram Engelhardt, in Fortschreibung der Visionen des Londoner CIBA-Symposiums "Man and his Future" und des Soziobiologen E.O. Wilson ("Biologie als Schicksal", 1980) auf dem Tübinger Symposium 1986 umriß: "Obwohl Technologie, kurzfristig betrachtet, die Welt immer mehr zu einer großen Gemeinschaft zusammenfügen wird, in der die verschiedenen menschlichen Rassen immer enger zusammenwirken werden, wird sich, längerfristig betrachtet, die Möglichkeit bieten, sich in verschiedene Spezies aufzuspalten. Solche Spezies werden vielleicht nicht nur grundverschieden, sondern unfähig sein, sich zu kreuzen, was unsere Nachkommen in biologisch einzigartige und unabhängige Gemeinschaften aufteilen wird."
Einer Bioethik der philosophisch-theologischen "Begleitung" steht eine Bioethik des Tuns gegenüber. Hier sei der Gynäkologe Prof. F. Beller (Münster) genannt, der wie Prof. Sass in den USA (lowa) arbeitet und dem Bochumer "Zentrum" nahesteht. Bekannt wurde Beller, bis 1987 in verschiedenen Gremien der Bundesärztekammer, u.a. Vertreter des "Arbeitskreises Medizinischer Ethikkommissionen", als er (gemeinsam mit seinem Kollegen Holzgreve) 1987 Müttern empfahl, ihre anenzephalen Kinder (gehirnlos, jedoch mit Hirnstamm) weiter auszutragen, bis deren Nieren transplantabel seien. Im Mai 1987 erfolgte die Transplantation auf drei Empfänger im Alter von 4, 9 und 25 Jahren, wobei Beller die Hirntoddefinition unterlief. In der Schriftenreihe "Bochumer Materialien zur Medizinethik" (Heft 17, April 88) erörterte er das Thema unter dem Titel "Hirnleben und Hirntod". Seine Spezialisierung auf Anenzephale reicht jedoch weiter zurück. Bereits 1980 thematisierte er den "Schutz von menschlichem Zellmaterial" bei Anenzephalen, die er "klinisch Toten mit erhaltenen Lebensfunktionen", also Organspendern, gleichsetzt. Hans-Bernhard Würmeling, Teilnehmer des Washingtoner Sass-Seminars 1987 und Mitherausgeber des Bands "Pränatale Diagnostik" (Braunschweig 1989), weist dort darauf hin, daß das Gehirn "schon einmal, und wir erinnern uns an BINDING und HOCHE", Kriterium war, um Geisteskranke als "leere Menschenhülsen" zu definieren. "Können wir uns dagegen abtrennen und haltbare Grenzen aufzeigen?" G. Hirsch stützt im selben Band Bellers Vorgehen: "Zur Lösung dieses Problems wird in der Rechtslehre der anenzephale Fet für tot erklärt. Eine tote Leibesfrucht kann auch nach Ablauf der genannten Frist beseitigt werden."
Die Schriftenreihe des "Bochumer Zentrums für medizinische Fthik" versteht sich als Multiplikator in internationalem Maßstab. Neben Schriften von US-Bioethikern (Engelhardt, Veatch u.a.), die auf die bundesdeutsche Praxis zielen, stehen bundesdeutsche Aufsätze, die in die internationale Bioethik wirken sollen. Von besonderer Bedeutung scheint da'bei der "Bochumer Arbeitsbogen" zu sein, der in englischer, spanischer, portugiesischer (Lateinamerika), japanischer und chinesischer (Volksrepublik China) Ubersetzung vorliegt (Autoren: Hans-Martin Sass und Herbert Viefhues). Es handelt sich um eine Check-Liste, anhand derer Behandlungsteams und Ethikkommissionen zu Entscheidungen in Einzelfällen kommen sollen. Der "Bogen" dient nicht nur als Trainingsmaterial in den Washingtoner Seminaren von Sass, sondern wurde auch al len Teilnehmern des Kongresses zugestellt, für den die Uni Bochum im Juni 90 ihre Schirmherrschaft zurückzog.
Die Singer-Debatte hat nicht nur ein latentes inhaltliches Interesse deutscher Philosophen an Euthanasie-Konzepten öffentlich gemacht, so z.B. durch die von Ursula Wolf, Habermas-Schülerin und Kollegin
Ernst Tugendhats, mitinitiierte "Berliner Erklärung" vom Dezember 89, die sich entlastend an eine "weltweite" oder auch "angelsächsische" Diskussion anlehnt. Im Rückblick wurde plötzlich auch die bereits 15 Jahre andauernde Euthanasie-Kampagne der "Zeit" aufgedeckt (Oliver Tolmein in KONKRET 6/90) und deren Strategie beleuchtet (Siegfried Jäger, "Der Singer-Diskurs", Vortrag zur Duisburger Ringvorlesung). Ohne Singer wären auch die aktuelle, praktisch-organisatorisch ausgerichtete Strategie des Bochumer Zentrums für Medizinethik und seine Einbettung in die bioethische "Internationale" weitgehend unbemerkt geblieben.
Zusammenhänge anderer Art verbinden sich seit dieser Debatte aber mit Professoren wie etwa Georg Meggle, Saarbrücken. In einem Protestschreiben Meggles an den Dekan des FB 13 der Uni Dortmund vom 15.6.89, das vor Sanktionen gegen die Professoren Anstötz und Leyendecker warnt (sie hatten Singer nach Dortmund geladen), verweist der Philosoph auf Richard M. Hare als dem "wohl bekanntesten und einflußreichsten Moraltheoretiker der Gegenwart", "bei dem im übrigen Prof. Singer wie auch ich selbst studiert hatten". Daß der bundesdeutsche Eklat um Singer tatsächlich vor allem Hare und dessen "Schule" traf, zeigte dessen entsetzte Reaktion auf die Auseinandersetzungen in einem Brief an die "Zeit". Wie Sass hat freilich auch Hare den gewohnten philosophischen Grund schon längst gegen bioethische Argumente eingetauscht und arbeitet nun, statt in Oxford, an der University of Florida. Eher allgemeinphilosophische Titel wie "The Language of Morals" (1952) oder "Freedom and Reason" (1963, deutsche Ausgabe "Freiheit und Vernunft", 1983; Ubersetzer: Georg Meggle) haben längst Artikeln u.a. in Peter Singers "Bioethics" Platz gemacht. Eine eingehende Untersuchung der Bedeutung Hares in bioethischer Hinsicht steht allerdings noch aus. Der Stuttgarter Reclam-Verlag zumindest scheint auf Geduld und Gewöhnung zu setzen: Unter den Neuerscheinungen im Frühjahr 90 findet sich eine ältere "Platon"-Einführung Hares, allerdings gewürzt mit der bereits von Meggle bemühten Prospekt-Werbeformel von Hare als dem "führenden Moralphilosophen unserer Zeit". Repräsentativer für Hares gegenwärtige Moral-lnteressen dürften neuere Artikel wie "Das mißgebildete Kind" sein, den Ernst Klee ("Zeit", 11.5.90) zum Anlaß nahm, dem Autor eine "Psychotherapie" zu empfehlen. Den von Hare dort als Hilfe zu ethischer Entscheidungsfindung angebotenen "pränatalen Dialog" zwischen einem behinderten Fotus und einem noch nicht gezeugten "nächsten" Kind hat Ernst Tugendhat als "kontrafaktischen, fiktiven Dialog" in anderer Form in seinem SWF-Vortrag wieder aufgegriffen.
Dem Hare-Schüler Georg Meggle blieb es vorbehalten, den bundesdeutschen Widerstand gegen Singer und die Bioethik als "neue Form des Antisemitismus" zu charakterisieren ("Semit" 3/90) und die geistige Haltung der Gegner wie folgt zu beschreiben: "Ein Jude muß krank sein, wenn er so denkt, wie Singer nun einmal denkt." Darüber hinaus hat es heftige Kritik an dem Zurückweichen seiner Kollegen vor "Verhinderungen von Singer-Veranstaltungen" und an fehlendem Bekenntniswillen geübt. Dies soll nun allerdings anders werden: Seit Ende Mai führt Meggle die "Gesellschaft für analytische Philosophie", deren Ziel es ist, "öffentlich Farbe zu bekennen" und die Öffnung der universitären deutschen Philosophie entschiedener als bisher voranzutreiben.
Über der aktuellen bioethischen Offensive sollte man die "Vorarbeit" dazu jedoch nicht übersehen. Die Wiedereingliederung der bundesdeutschen Humangenetik in den internationalen Kontext betreibt als "von der Vergangenheit unbelasteter Humangenetiker" seit vielen Jahren Prof. Friedrich Vogel, Dekan der Medizinischen Gesamtfakultät, der Fakultät für Theoretische Medizin, und Direktor des Instituts für Humangenetik und Anthropologie der Universität Heidelberg. Eine Laudatio ("Friedrich Vogel zum 65. Geburtstag", "Rhein-Neckar-Zeitung" v. 6. März 1990) unterstreicht, es sei maßgeblich sein Verdienst, "daß die Humangenetik nach dem Krieg in Deutschland als ein ganz der Rationalität verpflichtetes Fach, frei von ideologischen Vorurteilen, etabliert wird". Weiter: "Es ist ganz maßgeblich das Verdienst der internationalen Reputation von Friedrich Vogel, daß der internationale Kongreß für Humangenetik ... in Berlin stattfand, seit 1927 der erste große internationale Genetik-Kongreß überhaupt, der wieder nach Deutschland vergeben wurde. Er dokumentiert ein Stück Vergangenheitsbewältigung, in mancher Sicht einen neuen Anfang."
Ludger Weß wird später (in: " 1999" 1/87) über Vogels Berliner Referat schreiben: "Man sieht ihm an, daß er nahezu sein gesamtes wissenschaftliches Leben unter den Tätern verbracht hat, deren Schuld er nach wie vor nicht erkennen kann.... Nicht nur diese Bitburg-Mentalität des Wir-sind-alle-Opfer, auch das Kohl-Wort von der 'Gnade der späten Geburt' läßt er nicht aus, um selbstgerecht die Unschuld und die Sensibilität der bundesdeutschen Humangenetiker zu behaupten." - "Es ist ein unglaublicher Skandal, daß 1986 deutsche medizinische Genetiker eine deutschstämmige Propagandistin der Vernichtung 'lebensunwerten Lebens' zu einem Humangenetik-Kongreß einladen lassen, dieses Konzept kommentarlos anhören und als Ethik für das anbrechende 'goldene Zeitalter der Genetik' ohne weiteres akzeptieren."
Gemeint ist das Referat Helga Kuhses (Abteilungsdirektorin an Peter Singers Zentrum für Bioethik der Monash-University Melbourne), dessen Inhalt Weß so zusammenfaßt: "Im Rahmen dieser Ethik ist es möglich und notwendig, lebenswertes und lebensunwertes Leben zu unterscheiden und das lebensunwerte zu vernichten." Während des Kongresses verkaufte die Referentin das von ihr gemeinsam mit Singer verfaßte Buch "Should the baby live? The Problem of handicapped children", Oxford 1985). Kuhses Kongreßbeitrag wurde von Friedrich Vogel weiterbetreut. Unter dem Titel "Ethical Issues in Reproductive Alternatives for Genetic Indications" erschien er in ausgearbeiteter Form 1987 im Sammelband "Human Genetics-Precedings of the 7th Int. Congr. of Human Genetics" bei Springer, herausgegeben von F. Vogel und K. Sperling.
Dieses Werk stellte sicher, daß Helga Kuhse dank der "internationalen Reputation von Friedrich Vogel" auch das "Deutsche Ärzteblatt" überzeugte. Im Heft 16 (19.4.90) konnte sie ihre und Singers Thesen auch endlich im Herzen der deutschen Ärztezunft vertreten. Titel: "Warum Fragen der aktiven und passiven Euthanasie auch in Deutschland unvermeidlich sind". Kuhse beschreibt darin die bundesdeutsche Haltung mit Hilfe einer in der bioethischen US-Rhetorik beliebten Beleg-Episode aus dem Bereich der Verhaltensbiologie: "Wann immer der ostafrikanische Stamm der Nuer entschied, daß ein schwergeschädigtes neugeborenes Kind nicht leben sollte, dann wurde das Kind als ein versehentlich von menschlichen Eltern geborenes Nilpferd klassifiziert." Die bundesdeutsche Gesellschaft sei "dem Stamme der Nuer nicht unähnlich". Den platten Rassismus derartiger Episoden und die Verkehrung von Singers Mensch-Tier-Gleichung in eine Haltung derer, die ihn bekämpfen, fand Reinhard Merkel in einem "Zeit"-Artikel offenbar unwiderstehlich: Er zitierte Kuhses "Geschichte" als Spiegel "der öffentlichen Gehirnzustände" hierzulande ("Zeit", 6.7.90).
Ein anderer Arbeitsschwerpunkt von Vogels humangenetischem Institut, die genetische Familienberatung, steht unter dem Motto "Wir nennen das Risiko-Entscheidungen können wir den Eltern nicht abnehmen". In einem Gespräch mit "Lebenshilfe"-Redakteuren (vgl. "Lebenshilfe-Zeitung", Februar 1984) berichteten Prof. Vogel und Prof. Traute Schroeder-Kurth, in den letzten Jahren hätten sich "in Heidelberg nur zwei Familien gegen den Schwangerschaftsabbruch entschieden". Frau Schroeder-Kurth, beim abgesagten LebenshilfeSymposium im Juni 89 als Moderatorin der Sektion "Humangenetik-Genetische Beratung" vorgesehen, umschrieb damit den Zusammenhang "von genetischer Beratung/Pränataldiagnostik und den verschiedenen Reproduktionstechnologien" (Weß), der auf dem von Vogel federführend organisierten Berliner Kongreß eine bestimmende Rolle spielte. Die dort vorgestellte Studie "Ethics and Human Genetics" (publiziert 1988 bei Springer) plädiert für eine Beratung, die Familien mit "hohem Risiko" den Verzicht auf eigene Kinder nahelegt und alternativ ein Kind "durch Ei- oder Samenspende" vorschlägt. John Fletcher, einer ihrer Autoren, besuchte bereits 1984 das Heidelberger Institut zur "Vorbereitung für das Buch", in dem auch Frau Schroeder-Kurth mit einem Beitrag über bundesdeutsche Indikationsstellungen in 45 "Laboratorien" vertreten ist.
Fletchers Beiträge zur "dualen" Beratung reichen weit zurück. Als immer noch aktuell gilt im Fach sein vor fast 20 Jahren gemeinsam mit anderen vorgelegter Hastings Center Report mit eingehenden Vorschlägen zum Beratungsverfahren. Auch Joseph Fletchers Aufsatz "Indicators of Humanhood" der die Bioethik und damit Peter Singer mit dem für sie typischen "Person"-Begriff versorgte, erschien in diesem Zusammenhang, aus dem Vogels Arbeit zu verstehen ist. Fletchers Bedeutung als Vordenker im Bereich "Euthanasie" unterstreichen Artikel, die ins Jahr 1970 zurückreichen und in der voluminösen Dokumentation von Jay Katz ("Experimentation with Human Beings", New York 1972) bereits ihren Niederschlag fanden. Nach E. Agius schließlich ("Concilium" 3/89) besteht praktisch kein Unterschied zwischen Fletchers humantechnologischen Visionen und denen, die Tristram Engelhardt beim Tübinger Symposium 1986 vertrat. Friedrich Vogel reiht sich hier unauffällig ein: "Man wird in Zukunft jedem Kind eine Liste seiner genetischen Polymorphismen in die Wiege legen zusammen mit den daraus folgenden Gefährdungen, die im Laufe des Lebens zu vermeiden sind."
Auch in anderer Hinsicht spiegeln Themen und Referenten des Berliner Kongresses die Arbeitsschwerpunkte Vogels und damit deren "bioethische" Ausrichtung. Die humangenetische "Beforschung" ethnischer Enklaven der Dritten Welt mit "Mutationen" und "kostbaren genetischen Besonderheiten" mit dem Ziel, "die ökologische Krise durch Selektion von geeigneten Individuen und Bevölkerungen zu lösen" (Weß), die sogenannte "Populationsgenetik", führte auch Vogel in der Vergangenheit (als Gastprofessor in Delhi) nach Indien. Das Steckenpferd der amerikanischen Soziobiologie, das Postulat der Vererbbarkeit psychischer und Verhaltenseigenschaften, findet sich im Kongreßprogramm wie in Vogels Publizistik und Vernetzungsarbeit. Bereits 1980 stellte Vogel statistische Korrelationen zwischen Hirnströmen von "Uberträgern" und stoffwechselbedingten "Persönlichkeitsmerkmalen" her. So können langjährige, institutionelle Kontakte Vogels zur amerikanischen "Verhaltensgenetik" nicht überraschen. Jeweils für die Dauer eines akademischen Jahres ist Vogel Fellow am Center for Advanced Study in Behavioral Sciences in Stanford und am Berliner "Wissenschaftskolleg". Im Jahr 1988, als die Freie Universität Vogel den medizinischen Ehrendoktor verlieh, war-wie erwähnt-dort auch H. Tristram Engelhardt jr. zu Gast, Philosoph, Mediziner und "praktizierender Katholik".
Soziobiologie und Bioethik entfalten ihre Wirkung also keineswegs allein in eugenischem und humantechnologischem Aktionismus. Ihr ideologischer Kern, die deterministische Ruhigstellung gesellschaftlicher Bewegung mit dem Ziel der manipulativen Steuerung, erhebt massive politische Ansprüche. Was die Bundesrepublik betrifft, erleichterte in der Vergangenheit die personelle wie institutionelle Kontinuität, die rechtsextreme Herkunft dieser Ansprüche zu erkennen, besonders im universitären Bereich. So weigerte sich die "Deutsche Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik", die den Berliner Genetik-Kongreß federführend ausrichtete, jahrelang erfolgreich, die Anthropologin Prof. Erhardt aus ihren Reihen auszuschließen. Erhardt, im 3. Reich Mitarbeiterin einer "rassenhygienischen" Forschungsstelle und mit der Anlage eines sogenannten "Zigeunersippenarchivs" betraut, habilitierte 1950 über dieses Archiv, wurde Tübinger Professorin und erhielt 1966 für ihre Weiterarbeit an ihrem Projekt Gelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Auch in einem 1981 von angesehenen Professoren verfaßten "Heidelberger Manifest" finden sich Elemente platten Neofaschismus: "Jedes Volk, auch das Deutsche Volk hat ein Naturrecht auf Erhaltung seiner Identität und Eigenart in seinem Wohngebiet." Ebensowenig kann das folgende Zitat aus einer Schrift (1981) der "Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung" trotz soziobiologischer Maskerade seine faschistische Herkunft leugnen: "Politiker verletzen ihre heilige Pflicht, wenn sie zulassen, daß Fremdrassige ihre Ressourcen durch die Eroberung heimischer Ressourcen vergrößern, wenn die heimischen Frauen-Ressourcen erobert werden und durch Vermischung ein Gen-Chaos entsteht."
Zwar gehen US-Soziobiologie und US-Bioethik einen anderen Weg-aber zu den gleichen Zielen. Einen Hinweis hierzu hat wieder Peter Singer geliefert. Im Nachwort zur "Praktischen Ethik" zitiert Jean-Claude Wolf aus Singers ebenfalls 1981 erschienenem Buch: "The Expanding Circle": "Eine Ethik für menschliche Wesen muß die Menschen nehmen, wie sie sind", und ergänzt: "Wir müssen an die biologischen und sozialen Gegebenheiten anknüpfen." Was damit gemeint ist, lehrt der Untertitel des Singerbuchs, den Wolf vorsichtshalber wegließ: "Ethics und Sociobiology". Hans-Martin Sass hat deren Verknüpfung in die These gefaßt: "Spezielle religiöse oder philosophische Wertbegründungen haben keine universale Plausibilität ... Verantwortungsabkoppelungen entlasten Konsensbildung". Mit anderen Worten: Jede Wertbegründung ist so plausibel oder unplausibel wie die andere. Durch die Hintertür gewinnt so jede Moralvorstellung naturwüchsige Notwendigkeit und deterministische Legitimation: Rassismus wie universalistische Ethik werden zu gleichberechtigten Wettbewerbern im vorgeblich "pluralistischen" Konzert einer "säkulären" Ethik, die nach richtig oder falsch, d.h. nach Gerechtigkeit nicht mehr fragen soll. Wie im Paradewerk der Bioethics, Engelhardts "The Foundation of Bioethics", mustergültig durchgeführt, hat die bioethische Offensive aus den USA den Muff der neofaschistischen Hinterzimmer abgelegt und verbindet ihre militante Forderung nach gleichberechtigter "free speech" mit einer "neuen Freundlichkeit", mit dem Image sportlicher Fairneß und sympathischer Frische, mit "Modernität".
Die neuesten Beispiele einer deutschen Adaption der bioethischen Legitimationsformel für weniger anstrengende Moralkonzepte, wie sie Soziobiologie und Bioethik lancieren möchten, hat- vom Olymp der deutschen Philosophie-Ernst Tugendhat in seinem SWF-Vortrag geliefert: "Wie sich an vielen Problemen zeigt, z.B. an der Frage der Einwanderung und des Asyls sowie an der Frage, wie weit die Verarmung in der Dritten Welt unser moralisches Problem ist, stehen sich hier ein mehr universalistisches und ein mehr ethnozentrisches Moralbewußtsein gegenüber. " Ethnozentrik (was anderes als Rassismus, Nationalismus und bornierter Egoismus könnte dies sein?) wird hier nicht nur als "bewußte" und daher legitime Moralentscheidung in den Bereich der seriösen Philosophie heimgeholt und mit "Würde" ausgestattet. Mit der utilitarischen Abschaffung von Verantwortung als verbindlicher Norm für alle überläßt es die Bioethik anderen, sich"universalistisch" an den Folgen von Verantwortungslosigkeit abzuarbeiten. Es ist nicht überraschend, daß der Begriff der Verantwortung und damit Hans Jonas' "Prinzip Verantwortung" unter besonderen bioethischen Beschuß genommen wird. So erledigt Ernst Tugendhat Jonas, indem er die "Frage" nach unserer moralischen Verantwortung gegenüber späteren Generationen lediglich nicht bejaht und sorgt andererseits vor: "So könnte sich ergeben, daß es Menschen gibt, denen gegenüber wir überhaupt keine moralische Verantwortung haben. " Hans-Martin Sass seinerseits nennt Jonas' Ethik "defensiv" und schädlich insofern, als sie der "Verantwortungsabkoppelung" entgegenstehe, der Entlastung "von der Notwendigkeit eines gemeinsamen wertbegründeten Werthandelns".
Die Aufteilung der Menschheit in "Macher" und "Dulder", wie sie sich im bioethischen Kalkül über "Personen" und "Nicht-Personen" fortsetzt, kann aber nicht einmal vor den Augen der philosophisch gewitzten Urheber selbst noch als "Ethik" durchgehen. So meint schon Engelhardt: "This approach ... cannot ground a concrete ethic." Daß damit auch ein "philosophischer" Anspruch entfällt, bekümmert allerdings Tugendhat kaum: "Ob man diese allgemeine Reflexion als Philosophie bezeichnet, ist gleichgültig." In der "taz" (6.6.90) hat er schließlich ein Beispiel jener Mischung aus Sarkasmus und Herablassung geliefert, die entsteht, wenn sich die "neue Verantwortungslosigkeit" mit "neuer Freundlichkeit" paart. "Als ich mir jetzt die 'Erklärung der Berliner Philosophen' ... wieder ansah, die ich mitunterschrieben habe, konnte ich sie nur mit Kopfschütteln lesen. Kein Wort des Verständnisses für die Betroffenheit der Behinderten."
Jobst Paul und Siegfried Jäger haben die Broschüre " Von Menschen und Schweinen - Der Singer-Diskurs und seine Funklton für den Neo-Rassismus" veröffentlicht. Zu beziehen über das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, Tel. 0203-20 249

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Most recent revision: April 07, 1998

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