Unterschiede zwischen rechter und linker Pluralismuskritik

Anti-Pluralismus

Die rechte Kritik am Pluralismus begreift diesen als die ungeordnete, anarchische Vielheit der oligarchisch strukturierten, untereinander konkurrierenden und rivalisierenden, bestenfalls durch Parität in einem labilen Gleichgewichtszustand gehaltenen Gruppen der außerhalb der Verfassung und des Staatsverbandes stehenden gesellschaftlich autonomen Interessenverbände. Dieser Pluralismus hat nach Auffassung der rechten Pluralismus- Kritiker den Staat in seinem Wesenskern zerstört; er hat ihn zu einer "Zweckapparatur" gemacht, die als Clearing-Stelle privater Interessen funktionieren soll. Der Staat ist nicht mehr der Generalagent des Gemeinwohls; er hat seinen Charakter als "haltende politische Gemeinschaft" verloren - die Folgen sind absehbar: das herrschende System des Pluralismus von Oligarchlen - die "Führungskorps" der Parteien und der Gewerkschaften, die Unternehmer- und Wirtschaftsverbände, Interessenverbände jeder Art, die Kirchen nicht ausgenommen, die die Staatsgewalt unter sich aufteilen - wird, "wenn nicht im Bürgerkrieg, so jedenfalls in einer ständestaatlichen Auflösung enden".
Das Ende der Weimarer Republik kommt in den Blick. Damals hatte der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt den Pluralismus der "sozialen Machtkomplexe", die alle Vorteile des Einflusses auf den staatlichen Willen genießen, ohne politisch verantwortlich zu sein und ohne das Risiko dieser Verantwortung zu tragen, als Ursache dafür genannt, daß der Staat sich zu einem totalen ausweitete.
Den Begriff des totalen Staates wollte C. Schmitt in einem ganz spezifischen Sinne verstanden wissen: Der Staat war "total in einem rein quantitativen Sinne, im Sinne des bloßen Volumens und nicht der Intensität und der politischen Energie": "Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten. Er muß jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen, jeden subventionieren und den widersprechendsten Interessen gleichzeitig zu Gefallen sein ... "
Ähnlich wird über den heutigen Staat geurteilt. Der Staat ist zum Juniorpartner mächtiger Verbände geworden, er hat die Garantie des auf Parität beruhenden pluralistischen Status quo der Verteilung des Sozialproduktes und des Machteinflusses der Verbände übernommen. In dieser Funktion ist der Staat nicht mehr Herr, sondern nur noch Funktion der Gesellschaft: im umgekehrten Verhältnis zur Ausdehnung des Staates in Konsequenz seiner Verteiler- und Ausgleichsfunktion steht sein Mangel an Potenz. Der moderne Staat besitzt keine Autorität, gibt keinen Bewegungsraum für echte Herrschaft her, er bringt keine Obrigkeit hervor: "Die Situation des modernen Staates ist damit die, daß er kein Staat mehr ist."
Vor 1933, als der Staat in die Gefahr geriet, sich dem Druck der Verbände ausliefern zu müssen und "dem gesellschaftlichen Pluralismus zum Opfer zu fallen", suchte er sich - so interpretiert man nachträglich die Situation - durch autoritäre und totalitäre Ausweitungen zu schützen. Das Ergebnis war der totale Staat im eigentlichen Sinne: er "läßt in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden..."
Andere rechte Pluralismus-Kritiker bewegt primär nicht die Sorge um die Erhaltung des dem artikulationsunfähigen Volk bzw. der desintegrierten Gesellschaft übergeordnet gegenübergestellten Staates. Sie beklagen, daß der Pluralismus funktionslos und a-dynamisch geworden sei: auf der Basis einer stationären Wohlstandsgesellschaft muß permanent ein labiles Gleichgewicht der sozialen Interessen hergestellt werden, ein Vorgang, der die "Dynamik der Wirtschaft" behindert. Deshalb wird verlangt, daß bei Interessenkonflikten, ob zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, ob verursacht durch Paritätsforderungen der Landwirtschaft oder durch die Ansprüche einzelner Branchen oder Produktionszweige, der Primat der Funktionsfähigkeit der Wirtschaft im Sinne der Optimierung des wirtschaftlichen Wachstums anerkannt werden muß. "Diese Anerkennung heißt zugleich Anerkennung der Marktwirtschaft - der Freiheit des Wirtschaftens", heißt, "daß wirtschaftlicher Prozeß und Sozialordnung nicht miteinander identifizierbar sind", "daß soziale Ordnung Verteilungsordnung ist und Ausgleich und Gleichgewichtsverteilung dem Wirtschaftsprozeß angepaßt sein müssen".
Es gibt noch eine weitere Variante rechter Pluralismus-Kritik, die bei ihrer Argumentation von den konkret-aktuellen Ausformungen des Pluralismus abstrahiert und die Kritik dort ansetzt, wo ihrer Meinung nach der Pluralismus sich als ein Bestandteil der liberalen Verirrung ausweisen läßt. Eine Reihe überwiegend katholischer und protestantischer Autoren argumentiert in dieser Richtung etwa so: Der den Liberalismus konstituierende Subjektivismus bzw. der Autonomieanspruch des Individuums führte zum Pluralismus, der wiederum die hierarchische Ordnung des gesellschaftlichen Seins, der menschlichen Existenzordnung zerstörte, denn nicht die Vielfalt der gesellschaftlichen Gebilde ist im Sinne der Schöpfungsordnung das Entscheidende, sondern die diese Vielfalt harmonisch zusammenfassende Einheit. Diese Einheit ist nur dann vollziehbar, wenn der Pluralismus der Weltanschauungen in der menschlichen Gemeinschaft nicht so weit geht, "daß der Kernkomplex der Wahrheiten zersplittert wird. Ober Pluralismus in den Randgebieten läßt sich reden. Pluralismus in den Grundfragen der Existenz von Mensch und Gesellschaft darf nicht zur Debatte gestellt werden".
Der Pluralismus ist aus dieser Perspektive kein gesellschaftsformendes, auf das Gemeinwohl zielendes Prinzip, will man Gemeinwohl nicht mißverstehen als die Summe oder den Kompromiß privater Interessen. Dieser Pluralismus macht die Gesellschaft unfähig zur inhaltlichen Bestimmung des Besten für das Ganze und zur Umsetzung des Gemeinwohlkonsenses in die Staatswillensbildung; er ist deshalb auch kein politisches Form- und Ordnungsprinzip. Am Ende der Weimarer Republik hatte C. Schmitt festgestellt, daß es eben dem Pluralismus gegenüber einer entscheidungsfähigen und -bereiten "politischen Einheit" bedürfe - und darin sind sich auch heute noch alle rechten Anti- Pluralisten einig. Die Gesellschaft (manche sprechen vom "Volk") kann eben nur Form gewinnen, "wenn sie durch das elementare Formprinzip jeglichen Gemeinschaftslebens "formiert" (wird): durch das politisch interpretierte Gemeinwohl".
Die heutigen Pluralisten, die sich selbst unter Absetzung von der früheren pluralistischen Theorie und deren, wie sie es sehen, staatsauflösenden Konsequenzen Neo-Pluralisten nennen, haben dieser Kritik von rechts gegenüber mehrfach richtiggestellt, "daß man unter Pluralismus nicht das Nebeneinander einer Vielzahl bürokratischer Apparate, sondern das Mit- und Gegeneinander von autonomen Gruppen mit einem lebendigen Gruppeninteresse, einem ausgeprägten Gruppenbewußtsein und einem hochentwickelten Gruppenstolz der Gruppenmitglieder versteht".
Herausgefordert durch die Resonanz der Kritik an der Pluralismuskonzeption haben die Neo-Pluralisten selbst wiederholt auf die Probleme und Schwächen des Pluralismus namentlich in der Bundesrepublik aufmerksam gemacht:
1. "Der Pluralismus ist demokratisch unvollkommen. Die pluralistische Aufteilung der Macht nach sozialen Gruppen gibt zwar den organisierten Interessen und durch sie vermittelt den Individuen das Recht und die Chance, an der politischen Willensbildung der Nation mitzuwirken, aber sie garantiert überhaupt nicht, daß das demokratisch-numerische Moment der Zahl (außer der Wahl von Parteien ins Parlament) mit dem Machtquantum übereinstimmt." 2. "Der Pluralismus, der als die soziale Ausdrucksform einer freien und offenen Gesellschaft anzusehen ist, institutionalisiert und bürokratisiert sich im einzelnen wie im ganzen. Die Verfestigung der pluralistischen Machtstruktur bewirkt, daß neu sich bildende gesellschaftliche Interessen-Gruppen es schwer haben, in den Kreis der vom pluralistischen Konsensus akzeptierten Partner einzudringen und an der pluralistischen Machtvertellung zu partizipieren. . ."; 3. "Das pluralistische System ist in der Regel nicht flexibel genug, um eine spürbare Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse aus sich heraus hervorzubringen und die Entwicklung an der Basis der Gesellschaft in Politik umzusetzen ... Versuche, die solchermaßen zementierte Gesellschaftsstruktur wirklich ändern wollen, werden allerdings durch das pluralistische Establishment unter Einsatz der Staatsmacht so weit wie möglich vereitelt"; 4. "Zum Bild des pluralistischen Staates gehört die Gruppenorientierung seiner Parteien". Die Volksparteien als Ausdruck dieser Orientierung haben heute jeweils die gleichen Großinteressen in sich zu integrieren. "Diese Ausrichtung an den vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen bewirkt die Entideologisierung der Parteien, für die Politik zu nichts anderem als zum Ausgleich der pluralistischen Machtansprüche wird. Die Regierung tendiert dazu, das Gemeinwohl im Machtausgleich der stärksten Interessen zu suchen"; 5. Falsch wäre es, wenn die Politik in der pluralistischen Demokratie "sich nur als Verschieher und Vermittler von Interessen in einem zur Erstarrung tendierenden pluralistischen System betätigen müßte".
Aus dieser Bestandsaufnahme der Schwächen des pluralistischen Systems ziehen die neo-pluralistischen Theoretiker den Schluß, daß dies alles nicht bedeuten könne, "die Idee der pluralistischen Demokratie zu verabschieden"; diese Bestandsaufnahme macht nach ihrer Auffassung vielmehr deutlich, "daß wir nicht an einem über-, sondern an einem unterentwickelten Pluralismus leiden". Für sie bleibt der Pluralismus die Alternative zum Totalitarismus, ja, die Negation des Totalitarismus."
Um diesen Anspruch sachlich würdigen zu können, bedarf es der Orientierung über die Grundannahmen des neo-pluralistischen Konzeptes. Alle wesentlichen, d. h. öffentlich relevanten Interessen sind gruppenmäßig organisierbar und auch tatsächlich organisiert. Die Gruppen befinden sich zueinander in einem ungefähren Gleichgewicht. Sie nehmen als kollektiv organisierte Verbände an der politischen Willensbildung teil. Sie konkurrieren als Parteien um die politische Macht. Mit diesem sozialen System der Teilhabe und der Konkurrenz auf der Basis eines annähernden Gleichgewichts ist die Voraussetzung eines sozusagen "automatischen" Interessenausgleichs gegeben. Das inhaltlich nicht vorgegebene Gemeinwohl als "regulative Idee" für Inhalt und Ablauf der politischen Prozesse kann deshalb als eine aus dem Kräfteparallelogramm der gesellschaftlichen Interessen sich ergebende Resultante bestimmt werden.
Funktionsfähig ist dieses System für die Neo-Pluralisten jedoch nur auf der Basis eines "generell anerkannten Wertkodex-, der aus dem Erbe des christlichen, also transzendentalen, oder des aufklärerischen, d. h. rational legitimierten Naturrechtes abgeleitet wird. Für die Existenz einer funktionierenden pluralistischen Demokratie ist ferner ein "nicht-kontroverser Sektor" unentbehrlich, in dessen Bereich ein consensus omnium besteht; dieser nicht- kontroverse Sektor "beruht auf einer im Kollektivbewußtsein - und vor allem im kollektiven Unterbewußtsein - wirksamen Tradition", worunter das selbstverständliche Hinnehmen von Verhaltensweisen, Beurteilungsmaßstäben, Institutionen und die selbstverständliche Anerkennung fundamental wichtiger politischer Prinzipien (wie Mehrheitsentscheidung, Rechtsstaat usw.) verstanden wird. Schließlich will das neo-pluralistische Konzept die philosophisch-anthropologisch begründete Einsicht vermitteln, daß "die Entfremdung der zivilisierten Menschheit" ein Vorgang ist, "der nicht rückgängig gemacht werden kann, ja nicht rückgängig gemacht werden soll", denn nur diese Einsicht vermag menschliche Existenzordnung vor dem Abfall in Totalitarismus zu bewahren.
Die neo-pluralistische Theorie sucht also die defizitären Erscheinungen des realen Pluralismus dadurch zu eliminieren, daß sie sich auf ein Minimum von allen gemeinsamen Wertvorstellungen, Verhaltensweisen und Traditionen bezieht und bestimmte, im Prinzip unaufhebbare, wenn auch im einzelnen modifizierbare menschliche Seinsweisen postuliert.
Es gibt nun - vor allem unter angelsächsischen Politikwissenschaftlern - eine Version der Pluralismus-Theorie, die es als Merkmal des Pluralismus ansieht, daß es gerade keinen universellen Konsens gibt, sondern nur einen, der sich auf undogmatische Verfahrensgemeinsamkeiten und allgemein akzeptierte Spielregelhaftigkeit ohne ethische Bezüge beschränkt. Wieder andere gehen ebenfalls nicht vom Vorhandensein bzw. der Notwendigkeit eines wertbezogenen Minimalkonsenses über die Grundprinzipien der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung aus. Sie stellen vielmehr die Dialektik von Konflikt und Konsens in den Vordergrund, und zwar deshalb, weil ihrer Auffassung nach gerade durch Konflikte jeweils neue verbindliche Werte entstehen.
Am einflußreichsten in der politischen Theorie sind wohl jene Autoren - und dies zunehmend nicht nur im angelsächsischen Bereich -, die die Reduzierung des Pluralismus auf die Konkurrenz der Machtellten als unvermeidbar interpretieren und ins Positive wenden. Für sie stellt sich daher nur das Problem, ob und wie unter den gegebenen Bedingungen eine von Eliten getragene Politik auch die Interessen der Nicht-Eliten zufriedenstellen kann. Wenn pluralistische Demokratie nicht Herrschaft durch das Volk sein kann und auch nicht zu sein braucht, so will man wenigstens ihren Anspruch, Herrschaft für das Volk zu sein, legitimieren.
Hier sei nur auf einige Argumente, die diesem Zweck dienen, hingewiesen: Etablierte Eliten bedürfen, um gegeneinander konkurrenzfähig zu bleiben, aber auch, um den Aufstieg neuer Eliten innerhalb der etablierten Gruppen oder als Repräsentanten neuer Interessen zu verhindern, der Unterstützung möglichst breiter sozialer Schichten und Gruppen. Um diese Unterstützung zu erlangen oder zu behalten, müssen sie die Interessen der Nicht- Eliten - vorwegnehmend bzw. fortdauernd - in ihrer Politik berücksichtigen. Aus diesem Blickwinkel wird das Postulat der klassischen Demokratie von der unmittelbaren Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungen obsolet oder anders gesagt: wiederum wird eine defizitäre Erscheinung positiv gewendet. Geringe politische Beteiligung der Nicht-Eliten wird nämlich als ein Zeichen für die allgemeine Zufriedenheit mit den Leistungen der Macht-Eliten gedeutet, Politisierung der Nicht- Eliten als ein Alarmsignal für eine politische Krisensituation. Noch aus einem anderen Grunde empfiehlt sich bei diesem reduzierten Pluralismus-Modell, die Beteiligung der Nicht-Eliten an Entscheidungsprozessen einzuschränken: sie würde nämlich den Interessenausgleich zwischen den Gruppen im Interesse der Funktionsfähigkeit des gesamten politischen Systems gefährden. Aus einer solchen Perspektive ist also Demokratie nicht mehr notwendig mit einer demokratischen Ordnung der einzelnen Gruppen verbunden, wenn nur das Gesamtsystem demokratisch - d.h. Konkurrenz und Machtablösung der Eliten - funktioniert.
Lange Zeit fand sich die Pluralismus-Theorie in der Bundesrepublik in ihrer Geltung kaum eingeschränkt, da sie das herrschende politische Selbstverständnis als freiheitlich-demokratisch, sozial-liberal, offen-antitotalitär auf die Begriffe einer Theorie brachte. Angegriffen sah sie sich nur traditionell von rechts, was ihre Position nur stärkte. Das hat sich seit einiger Zeit geändert: der Feind steht für die Neo-Pluralisten nun auch links.
Aber auch die linke Pluralismus-Kritik ist keine neue Kritik. Harold Laski selbst, der schon gleich nach dem Ersten Weltkrieg eine Theorie des Pluralismus entworfen hatte, die die klassische Form der Staatssouveränität durch die Form des nichthierarchisch strukturierten Verbundes kooperativer Gruppen ersetzte, distanzierte sich 1934 von dieser Theorie: Er fand in ihr die Rolle der Klassenbeziehungen ungenügend berücksichtigt und sah deshalb keine Möglichkeit, den Pluralismus unter den Bedingungen des Kapitalismus zu verwirklichen. Zur gleichen Zeit erkannte Herbert Marcuse, daß es der den Pluralismus postulierende Liberalismus selbst war, "der den total-autoritären Staat aus sich "erzeugt": als seine eigene Vollendung auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung".
Otto Kirchheimer hat unter dem Eindruck des vollentfalteten Faschismus 1944 die von Marcuse aufgeworfene Problematik vertiefen können. Er stellte die Frage, was geschehe, wenn die Gruppenkonflikte so gewaltig und so umfassend seien, daß sie ohne grundsätzliche Übereinkunft der streitenden Parteien nicht mehr "bereinigt" werden könnten, 'a, wenn die Divergenz der Interessen so groß sei, daß die Übereinkunft nur noch darin bestehen könne, den Staat zur "endgültigen Entscheidung" anzurufen? In dieser Situation kommt nach Kirchheimer zum Ausdruck, daß das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Mächten "äußerst unstabil ist": "die mächtigsten unter den Gruppen (werden) geradezu gezwungen, zum Aufbau eines Herrschaftsapparates Zuflucht zu nehmen, mit dem "unerwünschte" Gruppen unterdrückt und der Wettbewerb zwischen den "erwünschten" Gruppen eingeschränkt wird. Übereinkunft zwischen ausgewählten Gruppen wird dann vermittels des gemeinsamen obersten Interesses erreicht, die vielen anderen niederzuhalten und einzuengen". Diesem Vorgang korrespondieren nach Kirchheimer Notstandstheorien. Die Erzwingung dieser Übereinkunft wird neuen Organisationen als Träger physischer Gewalt anvertraut, und alte Gruppen müssen ihre Macht mit diesen neuen teilen- Genau dies charakterisiert Aufstieg und Machtübernahme des Faschismus.
Die gegenwärtige linke Kritik am Pluralismus ist durch diese Einsichten geprägt und greift auf sie zurück. Ihre Kernpunkte sind die folgenden: Die neo-pluralistische Theorie geht von doppelt falschen Prämissen aus, indem sie die falsche Harmonieerwartung der individuellen Konkurrenz am Markte in einem falschen Analogie-Schluß auf die Gruppenkonkurrenz überträgt. Zwischen den Gruppen besteht wie am oligopolistisch verzerrten Markt ein Ungleichgewicht, das sich aus der unterschiedlichen Potenz der sozialen Basis, der Größe der Apparate und dem Umfang der Geldmittel der einzelnen Gruppen ergibt. Zwischen den mächtigen Gruppen, so zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, besteht eine grobe Parität, durch die den neuen Gruppen der Zugang zu den Machtvertellungszentren erschwert oder gar unmöglich gemacht wird: Es werden stets die bestehenden Gruppen gegenüber den sich herausbildenden bevorzugt. Es sind auch nicht alle Interessen organisierbar, d. h. zum Austausch auf dem Markte befähigt, zumindest aber sind bestimmte soziale Schichten (Kinder, Alte, sogenannte Asoziale, Kranke etc.) unzureichend organisiert. Wer aus den größeren etablierten Gruppen herausfällt, wird als Ausnahme betrachtet: "Der Pluralismus ist also keine explizite Philosophie des Vorrechts oder der Ungerechtigkeit - er ist eine Philosophie der Gleichheit und Gerechtigkeit, deren konkrete Anwendung die Ungleichheit dadurch unterstützt, daß sie das Vorhandensein bestimmter sozialer Gruppen ignoriert."
Das Ziel des Pluralismus, immer wieder von neuem eine ungefähre Parität zwischen den etablierten sozialen Gruppen hervorzubringen, widerstrebt dem Versuch, allgemeine gesamtgesellschaftliche Interessen effektiv, außer Konkurrenz zu organisieren; im Extrem wird das Bestehen gesamtgesellschaftlicher Interessen Oberhaupt geleugnet. In den Gruppen selbst wird im Interesse ihres Zweckes und ihrer Ziele das demokratische Postulat der Partizipation der Mitglieder durch die technische Effizienz oligarchisch-elitärer Herrschaft ersetzt.
Die Konsequenz des Pluralismus ist nach linker Auffassung, daß er sich gegen Veränderungen in der Gesellschaft sperrt, ohne sie prinzipiell auszuschließen. Der Pluralismus - so heißt es deshalb bei Herbert Marcuse - beschleunigt die Zerstörung des Pluralismus; die pluralistischen Mächte heben sich gegenseitig auf "in einer höheren Einheit" - "im gemeinsamen Interesse, die erreichte Stellung zu verteidigen und auszubauen, die historischen Alternativen zu bekämpfen, qualitative Veränderung zu hintertreiben". Manipulation, Integration, Gleichschaltung und die Konstituierung eines permanenten Feindes - "das reale Gespenst der Befreiung" - als Bindekraft ist die selbstzerstörerische Konsequenz des Pluralismus.
Aus solchen Zusammenhängen erhellt nach Auffassung der linken Anti-Pluralisten die Beziehung zwischen Pluralismus und gegenwärtigem kapitalistischen System. Schon Jürgen Habermas hatte darauf aufmerksam gemacht, daß in den industriell fortgeschrittenen Gesellschaften die Produktivkräfte einen Stand erreicht haben, der "Gesellschaft im Überfluß" möglich macht; "ein fortbestehender, wenn nicht gar vervielfältigter Pluralismus der Interessen" kann deshalb "die antagonistische Schärfe konkurrierender Bedürfnisse im Maße der absehbaren Möglichkeit ihrer Befriedigung verlieren". Doch wäre dies dann genau das "Deckbild fortwährender Ungleichheit unter formaler Gleichheit" (Helge Pross). Die Pluralität der Interessen wie auch der damit zusammenhängende Pluralismus auf der Ebene der zufriedenstellenden Verteilung der produzierten Güter wirken, so Johannes Agnolis Auffassung, "politisch der Polarität entgegen, die nach wie vor an der Basis der Gesellschaft besteht".
Aus einer solchen Perspektive stellt sich die neo-pluralistische Theorie als eine Verhüllungsideologie dar, als "Fassade vor einer längst wiedergewonnenen Einheit der Herrschaft", zumal der zentrale Begriff der Theorie nicht mehr die Gruppenkonkurrenz ist, sondern der Integrationsvorgang, der die totalitäre Repression ersetzt. Genau hier liegt nämlich nach Auffassung der linken Pluralismus-Kritiker der Druckpunkt des gegenwärtigen kapitalistischen Systems: ohne pluralistische Ideologie "... muß die kapitalistische Gesellschaft zu unmittelbarer politischer Gewalt greifen und totalitär werden, mithin sich selbst als wesentlich kapitalistisch bestimmt aufheben". Unter diesen Bedingungen ist der Pluralismus gezwungen, sich noch in einer gegen sich selbst gekehrten Form als solcher zu bestätigen-. "Der Pluralismus der gesunkenen Erträge und der drohenden Haushaltslücken ist die "Formierte Gesellschaft"."
Die pluralistische Demokratie begünstigt also die Verbreitung von in Wahrheit konservativen Theorien, welche der Erhaltung des Bestehenden dienen; sie enthält - unter den Bedingungen der antagonistischen Gesellschaft - entgegen der Meinung ihrer Apologeten eben nicht Sicherheiten gegen ihre Rückbindung in ein autoritäres System, noch ist sie aus sich heraus imstande, "weiteren Fortschritt im Sinn einer Ausweitung individueller Freiheit und der Herstellung von Gleichheit zu garantieren. Vielmehr scheint ihr die Tendenz immanent, den Status quo der sozialen Ungleichheit zu zementieren".
Die neo-pluralistischen Theoretiker bemühen sich in Verteidigung ihrer Konzeption, beiden kritischen Positionen im Prinzip gleiche Motive und wenn auch nicht gleiche Ziele, so doch gleiche negative Konsequenzen ihres Denkens nachzuweisen. Beide teilten-so Kurt Sontheimer - miteinander den "Überdruß an der Demokratie der Bundesrepublik" und daraus folgend ein "fatales totalitäres Politikverständnis". Beide strebten - so Karl Dietrich Bracher - über die liberale und parlamentarische Realität der freiheitlichen Demokratie hinaus Zur vermeintlich konsequenteren, in Wahrheit diktaturförmigen Perfektion einer "totalen" Demokratie. Beide - so Gerhard A.Ritter - ließen in ihrer Konzeption der einheitlichen Volksgemeinschaft bzw. der der klassenlosen Gesellschaft keine Parteien, keine Sonder- und Gruppeninteressen und keine Konkurrenz zu der der Gesellschaft zugrundeliegenden herrschenden Religion oder Ideologie zu; beide reduzierten den Menschen auf eine einzige, alle anderen im Konfliktfalle letztlich ausschließende Loyalität - sei es zur Nation, sei es zur Klasse: dies müsse als totalitär entlarvt werden.
Den Linken wird vor allem der angebliche Anschluß an Carl Schmitts (und seiner Nachfolger) Anti-Pluralismus (und Anti- Parlamentarismus) nachgetragen und dabei vermutet, daß sie sich nicht oder nicht ausreichend darüber im klaren seien, "daß im Hintergrund jeder antipluralistischen Konzeption das traditionelle Bild des autoritativ entscheidenden Staates lauert, der die Gesellschaft in ihre Schranken zwingt".
Ein Teil dieser Vorwürfe wird in den folgenden Kapiteln noch einmal diskutiert werden. Hier soll zunächst auf einige schwache Punkte der Anti-Kritik der Neo-Pluralisten hingewiesen werden. Obwohl von der linken Pluralismus-Kritik dazu herausgefordert, erfolgt keine grundsätzliche Reflexion des Pluralismus im Zusammenhang seiner sozioökonomischen Basis. Stattdessen wird im Extremfall die bloße Konstatierung des historisch-konkret unbestreitbaren Entstehungszusammenhanges zwischen pluralistischer Demokratie und bürgerlich-kapitalistischer Klassengesellschaft bereits als Denunziation verstanden. Die Prinzipien der pluralistischen Demokratie werden erst Jenseits der als unaufhebbar repressiv verstandenen Sphäre der materiellen Reproduktion der Gesellschaft diskutiert. Unfreiheit und Unvernunft und als ihr konkreter Ausdruck das überborden partieller Interessen lassen sich hier nicht beseitigen und brauchen auch nicht beseitigt zu werden: Die Idee der Freiheit und des Gemeinwohls lassen sich nur im Bereich der Politik als der Sphäre des vernünftigen Miteinanderverhandelns und -handelns der Bürger verwirklichen.
Derart fixiert auf das, was sein soll, oder bemüht, das, was ist, zu verteidigen, bleibt den neo-pluralistischen Theoretikern der Blick auf die widersprüchliche, dreigespaltene Wirklichkeit der pluralistischen Demokratie verstellt: Die Produktivkräfte - und zu ihnen gehört bekanntlich der Mensch - haben sich so mächtig entfaltet, daß die Verwirklichung eines humanen, kritischen, demokratischen Sozialismus denkbar geworden ist; die gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnisse - bestimmt durch die noch überwiegend private Aneignung und Verwertung des gesellschaftlich Produzierten - sind nach wie vor als bürgerlich-kapitalistische zu bezeichnen; die Formen des politischen Überbaus haben offenbar mehr Ähnlichkeit mit denen der Feudalgesellschaft als mit denen des klassischen liberalen Modells.
Die neo-pluralistische Theorie wird offenbar durch eben diese ihre eigene Schwäche zu der Überbetonung vordergründiger Gemeinsamkeiten ihrer Gegner verführt. Sie wirft diesen einen Begriff von Politik als Freund-Feind-Verhältnis vor, während sie doch selbst von nichts anderem auszugehen scheint, indem sie einfach voraussetzt, daß ihre Feinde notwendig untereinander Freunde sein müßten: Die Rechten kritisieren nämlich den Pluralismus, weil es ihn gibt, die Linken dagegen, weil es ihn nicht gibt. Doch bedürfen diese generalisierenden Aussagen noch der konkretisierenden Vertiefung.
Die rechten Anti-Pluralisten wollen die konkurrierenden Gruppeninteressen "aufheben" zugunsten eines vergeblich gemeinwohlorientierten Etatismus, der die ad hoc plebiszitär eingeholte, manipulativ homogenisierte Akklamation des Volkes fälschlich gleichsetzt mit dem permanenten Prozeß-Charakter der Hervorbringung eines Gemeinwillens durch die differenzierten Kräfte der Gesellschaft.
Der Staat, in welcher Form auch immer, soll die Identifikation des "Gemeinwohls" mit einem Teilinteresse auf Dauer garantieren; dieses Teilinteresse ist das Interesse an der Erhaltung der bestehenden Sozial- und Eigentumsordnung. Die hierarchisch gegliederte Ordnung der Gesellschaft soll die Autonomie freisetzende, demokratisierende, polemisch als anarchisch bezeichnete Qualität des Pluralismus einhegen und begrenzen.
Die linken Anti-Pluralisten kritisieren an der Pluralismus-Theorie, daß sie die Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft verschleiere, daß sie damit eine Wirklichkeit verteidige, die gar keine pluralistisch-demokratische Qualität besitze, daß sie mit den postulierten Methoden unter den vorgezeichneten Bedingungen gar nicht die von ihr angestrebte demokratische Teilhabe am politischen Willensbildungsprozeß ermöglichen könne. Der Begriff des Pluralismus wird also nicht nur als unzulänglich für die Beschreibung der Gesellschaft, wie sie tatsächlich ist, zurückgewiesen, sondern auch als ungeeignet zur Lösung der Probleme der Gesellschaft, wie sie sein soll.
Welche Alternative von links gibt es zu ihm? Herbert Marcuse, befragt, ob er nun seinerseits eine harmonisierte Gesellschaft anstrebe, die ohne Toleranz und Pluralismus auskommen werde, und wer dann die Gemeinwohl-Inhalte definieren soll, hat darauf geantwortet: "Eine freie Gesellschaft ist entweder ohne Toleranz nicht vorstellbar, oder eine freie Gesellschaft hat deswegen Toleranz nicht nötig, weil sie sowieso frei ist, so daß Toleranz nicht erst gepredigt zu werden braucht und nicht erst institutionalisiert zu werden braucht. Das ist keine Gesellschaft ohne Konflikte ... das wäre eine utopische Idee. Aber die Idee einer Gesellschaft, in der Konflikte selbstverständlich bestehen, aber diese Konflikte ohne Unterdrückung, ohne Grausamkeit gelöst werden können, ist meiner Meinung nach keine utopische Idee."
Auch Robert Paul Wolff ist der Überzeugung, daß es zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme einen Weg geben muß, "auf dem sich aus der ganzen Gesellschaft eine wirkliche Gruppe mit einem Gruppenziel und einer Konzeption des Gemeinwohls herstellen läßt"." Welcher Weg dies ist, läßt er wie Marcuse offen, der der Auffassung ist, daß "in irgendeiner Weise" ein Eingriff geschehen müsse, daß in irgendeiner Weise die bisherigen Unterdrücker unterdrückt werden müßten.
Doch wenn neo-pluralistische Theoretiker wie z. B. Ernst Fraenkel meinen, dieses Problem könne von den Anti-Pluralisten folgerichtig nur durch eine Erziehungsdiktatur, letztlich durch die Flucht in den Totalitarismus gelöst werden, so schließen sie zu kurz. Marcuse bezeichnet das Dilemma, vor dem jedenfalls solche Linke stehen, die Marx adäquat nach-denken: Wenn der Mensch nach Marx das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, wie können dann jene neuen revolutionären Bedürfnisse in den Menschen entstehen, die die bestehenden negieren, während doch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die alten Bedürfnisse immer wieder neu entstehen lassen, nicht abgeschafft werden können ohne das Bedürfnis, sie abzuschaffen: "Genau das ist der Zirkel, der vorliegt, und ich weiß nicht, wie man aus ihm herauskommt".
Zuzugeben ist den neo-pluralistischen Kritikern an solchen Aussagen allerdings, daß für die Linke die Aufgabe noch zu lösen bleibt, wie einerseits die Autonomie der Gruppen in der Gesellschaft und die der Individuen in den Gruppen als Moment der schöpferischen Entfaltung der Produktivkräfte, deren die Gesellschaft zur humanen Daseinsbewältigung bedarf, akzeptiert werden kann, und wie andererseits die uneingeschränkte Teilhabe potentiell aller an den politischen Entscheidungsprozessen als Voraussetzung der dauernden Beachtung und Durchsetzung der gesamtgesellschaftlichen Interessen zu verwirklichen ist. Oder um die Problematik auf eine andere, vielleicht klarere Formel zu bringen: wie die Spannung zwischen pluralitärer Anarchie und sozialer Homogenität in einer Gesellschaft der tatsächlich Freien und Gleichen permanent erhalten bleiben kann. Doch das scheint sicher, daß nur ein solches Konzept als ein linkes im emanzipatorischen Sinne interpretiert werden kann.

Auszug aus: Helga Grebing Linksradikalismus gleich Rechtsradikalismus. Eine falsche Gleichung

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Most recent revision: April 07, 1998

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