Gegen den Terminus der "Kollektivschuld"

Ich spreche von denjenigen deutschen und österreichischen Zeitgenossen, die einander und sich selbst einreden, daß unsere Bitte, das Gewesene (damit es sich nicht wiederhole) nicht zu vergessen, nichts sei als der indirekte Vorwurf einer "Kollektivschuld". Nun dieser Terminus ist ganz sinnlos. Es mag zwar unmittelbar nach Kriegsende, als die maschinelle Vernichtung bekannt wurde; und als dies evident wurde, daß es keinen Deutschen gegeben haben konnte, der nichts davon gewusst hätte; und als die theoretische Verarbeitung und Aufklärung des Geschehens nicht sofort perfekt einsetzen und funktionieren konnte, also damals, vor mehr als vierzig Jahren mag zwar dieser Ausdruck, namentlich der USA, verwendet worden sein. Aber schon um 1950 wurde er von keinem ernsten Menschen: keinen seine Toten Betrauernden, keinem Seriösen Autor, Historiker oder Politiker mehr in den Mund genommen. Mit dem Überleben des Wortes hat es, wie Sie, Herr Eichmann, gleich sehen werden, eine sehr besondere Bewandnis. Nicht durch uns lebt dieser Terminus fort, wir halten ihn für Unsinn, obwohl wir alle, wie ich ihnen schon vor 25 Jahren geschrieben habe "kollektiv" in der Gefahr schwebten, als "Eichmänner" zu handeln, also, wenn Sie so wollen, in eine "Kollektivschuld" hineinstürzen. Aber wir, die zufällig Verschonten, wir vermeiden diesen dubiosen Ausdruck grundsätzlich. Am Leben gehalten, und zwar hartnäckig, wird dieses Wort allein durch Euch, durch Hundertausende Ihresgleichen. In der Tat führt Ihr Euch so auf, als wenn wir Euch pausenlos den Vorwurf der "Kollektivschuld" entgegenschleuderten. Und das tut Ihr, weil Ihr - jawohl: Ihr, nicht wir - den Begriff benötigt. Ihr benötigt ihn deshalb, weil ihr wünscht, die Chance zu haben, ihn abweisen zu können, und Euch durch diese Abweisung ins Recht setzen zu können. Gäbe es das Wort nicht, Ihr würdet es erfinden, um es zu bekämpfen. So wie Ihr, wenn es uns Juden nicht gegeben hätte, Juden erfunden und sogar hergestellt hättet. Der Vergleich ist mehr als eine Parallele, weil es sich in beiden Fällen um die typische Taktik des Antisemitismus handelt, der deshalb auf Juden angewiesen ist, weil diese das unverzichtbare Futter für die Haßlust sind. Kurz: Ihre Leute hier, die Eichmannssöhne von heute, leben geradezu im Glauben daran, daß die sie verunrechtende Anklage von uns dauernd vertreten werde. Sie benötigen den Vorwurf, um durch Nachweis seiner Falschheit Schuldlosigkeit beweisen zu können. Zwar wäre keiner von ihnen imstande, seriöse Originalautoren der Anklage bei Namen zu nennen, denn diese existieren nicht. Höchstens hat es Morgenthau gegeben: Der mag den Ausdruck "collectiv guilt" zwar verwendet haben, aber das ist über 40 Jahre her, seine einschlägige Rede kennt keiner von ihnen, im übrigen war der Mann ein Politiker, als Theoretiker nicht ernst zu nehmen, und wenn die damals direkt nach Bekanntwerden von Auschwitz versuchten Formulierungen nicht genau ins Schwarze hineintrafen, so ist es nicht verwunderlich. Aber Ihre Bundesgenossen hier kennen den Ausdruck "Kollektivschuld" allein deshalb, weil dessen Unzulänglichkeit verwendbar erscheint, weil sie diese bekämpfen können. Diese Logik ist nicht unbekannt, man kennt sie aus der Geschichte des Antisemitismus, dessen Geheimdevise, wäre sie je ausgesprochen worden, gelautet hätte:
Ich bekämpfe die Bösen,
also hasse ich die Bösen,
also gibt es die Bösen"
oder bekämpfe etwas,
also ist es."
Kurz: Ihre heutigen und hiesigen Bundesgenossen benötigen und lieben den Vorwurf der "Kollektivschuld". Würden sie diesen nicht als existent unterstellen, so würde ihnen etwas fehlen: ihre Ehre nämlich. Dazu kommt schließlich, daß sie durch ihre Bestreitung der angeblich von uns vertretenden These die Chance gewinnen, die Schuld auf uns, die Überlebenden zu schieben: nämlich uns als Lügner hinzustellen. Wobei sie das für opportun halten, (...), darauf hinweisen, daß (während sie uns schon längst verziehen hätten) wir (natürlich zumeist jüdischen) Opfer typischerweise völlig unversöhnlich, nein rachsüchtig blieben. Wer, frage ich Sie, hat wen umgebracht? (Diese Frage scheint noch viel zu sanft, da sie so klingt, als habe ein Einzelner einen anderen Einzelnen umgebracht.) Wer hätte also wem etwas zu verzeihen? Sofern für so unvorstellbare Greuel wie für die Herstellung von sechs Millionen Leichen, überhaupt um "Verzeihung" gebeten werden kann. Oder gar eine solche Bitte gewährt werden könnte. Befinden wir uns hier nicht an der Grenze dessen, was verzeihbar ist?
Vielleicht nicken Sie, Herr Eichmann. Die hiesigen professionellen Verharmloser der Greuel tun das gewiß nicht. Statt dessen benehmen sie sich - was gegenüber solchen Taten nun gewiß absolut unverzeihbar ist - als Schlauberger: Mit Hilfe eines Umdrehungstricks machen sie nämlich aus ihrer unerschütterbaren Ableugnung der angeblich von uns vertretenen (in Wahrheit uns von ihnen in den Mund gelegten) Kollektivschuldthese
"Alle Deutschen sind schuldig"
die negative These:
"Kein Deutscher hat sich schuldig gemacht."
Das heißt: die falsche Universalisierung benutzen sie, um die Schuldlosigkeit selbst zu universalisieren. Von dieser Umdrehung bis zur Behauptung, daß es Auschwitz nicht gegeben habe, also daß wir uns schon durch die bloße Behauptung (man schämt sich, das niederzuschreiben), eben der so genannten "Auschwitzlüge" schuldig machen, ist es nur ein kurzer Schritt. Natürlich weiß ich nicht, Herr Eichmann, ob auch Sie diese Unüberbietbare Frechheit gegen die Ermordeten und die paar Überlebenden mit machen; diese "Leichenschändung durch Leichenleugnung", die die Mörder und deren Söhne sich herausnehmen; und die sie sich deshalb herausnehmen können, weil es natürlich keine Ermordeten gibt, die sich als "ermordet" je zur Stelle gemeldet hätten. "Das Fehlende bleibt stets unsichtbar".
aus: Günther Anders, Wir Eichmannsöhne, S.81f

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Most recent revision: April 07, 1998

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